Das Orakel von Antara
gesagt, sie sei ein Mensch? Also, was hält dich zurück?“
„Nichts!“ sagte Yorn lakonisch und stand auf. Dann schritt er in die Richtung, in die Vanea davongelaufen war.
„Na also!“ seufzte Reven zufrieden. „Sonst wären die beiden womöglich noch tagelang wie verliebte Katzen umeinander herumgeschlichen. Ich habe doch schon in Vaneas Reich gespürt, dass er sich genauso zu ihr hingezogen fühlte wie sie zu ihm. Nur war sie mutiger als er und hat es ihm gleich gezeigt. Aber ich glaube, in Bezug auf Frauen ist unser Held ein Feigling.“
„Das glaube ich nicht“, brummte Kandon. „Ich glaube eher, er war sich selbst noch nicht ganz sicher. Das Ganze kam ihm wohl zu plötzlich. Und es hat ihn irritiert, dass sie diejenige war, die den ersten Schritt getan hat. Es war ja wohl ganz offensichtlich, was sie im Sinn hatte, als sie ihn bat, ein Jahr bei ihr zu bleiben.“
„Nun, wenn sich jetzt alles klärt, ist es wohl gleich, wer von den beiden angefangen hat“, meinte Reven. „Ich für meinen Teil glaube jedoch, dass den beiden nichts Besseres passieren konnte. Komm, lass’ uns schlafen gehen. Die zwei werden wohl noch ein Weilchen miteinander beschäftigt sein.“
Vanea war zum Ausgang des Felsspalts gelaufen. Dort stand noch der Schlitten, bedeckt mit einem der Pelze, den die Männer in der Eile vergessen hatten. Sie ließ sich auf dem Schlitten nieder, stützte die Ellenbogen auf die Knie und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie war verwirrt und ratlos. So viel war in so kurzer Zeit mit ihr geschehen, dass es ihr nicht gelang, sich über sich selbst klar zu werden. Herausgerissen aus der vertrauten Umgebung, völlig verwandelt und von neuen Empfindungen überrollt, gab es nur noch ein Gefühl in ihr, das sich nicht geändert hatte: ihre Liebe zu Yorn!
Während ihrer Flucht und der Überfülle der neuen Eindrücke, die auf sie einstürmten, war sie der Pfeiler gewesen, an dem Vanea inneren Halt gefunden hatte. Doch Yorns Z urückweisung im Nebelreich und sein reserviertes Verhalten während der Fahrt hatten nicht gerade dazu beigetragen, diesem Pfeiler Kraft und Standfestigkeit zu geben. Immer wieder hatte sie sich gefragt, ob es richtig gewesen war, für eine Liebe, die nur sie allein zu empfinden glaubte, alles aufzugeben. Sie hatte ihre Heimat verlassen auf die vage Hoffnung hin, Yorn könne sich ihr vielleicht doch eines Tages zuwenden. Aber immer wieder hatte sie sich gesagt, dass die Sehnsucht nach ihm und das Wissen, dass er nie mehr zurückkommen würde, ihr Leben im Nebelreich unerträglich gemacht haben würde. Sie hatte nicht werden wollen wie die kalte Naminda, die ihr Leben der Trauer um den Geliebten geweiht hatte, oder wie ihre Ahne, die die Sehnsucht eines Tages in den Tod getrieben hatte. Lieber hatte sie ihre Heimat verlassen in der Hoffnung, Yorn dadurch zumindest eine Weile nahe zu sein. Wie ein Schwert war ihr seine Zurechtweisung durch die Seele gefahren, als er ihr erklärt hatte, man könne Liebe nicht erzwingen.
Ja, sie hatte einen Fehler g emacht, als sie ihre Hilfe durch seine Gegenwart erkauft sehen wollte. Aber wie hätte sie ihn zu diesem Zeitpunkt anders halten können? Es graute ihm vor ihr, und er wäre sogar vor ihr geflohen, wenn nicht sein Pflichtgefühl ihn zurückgehalten hätte. In dem Augenblick, da er sie zurechtgewiesen hatte, war Vanea überzeugt gewesen, dass Yorn sie immer noch verabscheute. Aber jetzt? Warum hatte er gesagt, dass es für ihn nie eine zweite Vanea geben würde? Wie sollte sie das verstehen? Und wie sollte sie die zärtliche Fürsorge verstehen, mit der er sie umgab, wenn er sie doch abstoßend fand?
In Vaneas Kopf jagten sich die Gedanken, und sie konnte keinen Ausweg aus diesem Lab yrinth finden. Sie war unglücklich und verzweifelt. Und plötzlich rannen dicken Tränen durch ihre Finger und tropften auf den schmelzenden Schnee. Da legte sich eine Hand auf ihr Schulter, und sie hörte Yorn sagen:
„Weine doch nicht, Vanea, bitte! Ich möchte doch, dass du dich bei uns glücklich fühlst. Und ich will alles tun, damit du nicht bereust, uns geholfen zu haben. Wenn es uns mit der Hilfe der Götter gelingt, auch die anderen Aufgaben zu lösen, werde ich dir unser Land zeigen. Du sollst sehen, wie schön Antara ist. Wir gehen zum großen See, wo die Niveder lebten, bevor die Moradonen sie versklavten, und ich zeige dir den Fluss, an dem Reven und ich aufgewachsen sind.“
Er setzte sich neben Vanea auf
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