Das Orakel von Antara
Schmarre über den ganzen Oberarm - aber er lebte! Mit zitternden Fingern riss Vanea ein Stück von ihrem Hemd ab und tauchte es in das klare Wasser des Rinnsals. Dann begann sie das Blut von Yorns Gesicht zu waschen. Das kalte Wasser brachte ihn wieder zu sich, und er schlug die Augen auf.
„Was ist? Wo bin ich?“ murmelte er. Er wollte sich aufrichten, sank jedoch mit einem Stöhnen wieder zurück.
„Yorn, Yorn, verzeih' mir!“ rief Vanea. Tränen stürzten aus ihren Augen, und mit einem Aufschluchzen warf sie sich auf seine Brust. „Ich war ja so töricht. Wegen meiner Voreiligkeit bist du nun verletzt. Was kann ich nur tun?“
„Lass’ nur, Vanea, es scheint nicht so schlimm zu sein“, sagte Yorn mit glücklichem Lächeln und zog sie fester an sich. „Ich glaube nicht, dass ich mir etwas gebrochen habe, Saadh sei Dank! Es wird gleich wieder gehen. Nur mein Kopf dröhnt fürchterlich. Lass’ mich noch ein Weilchen liegen, dann werde ich wohl wieder aufstehen können.“
Yorn fühlte, dass die Schramme an seiner Stirn wohl schlimmer aussah als sie war, und dass er wohl auch wieder hätte aufstehen können. Aber er wollte das Glück, Vanea in den Armen zu halten, noch ein wenig genießen. Wer weiß, vielleicht zog sie sich sofort wieder zurück, wenn es ihm besser zu gehen schien. Sanft streichelte er das weiche Haar des Mädchens, und Vanea lag still in seinen Armen. Sie hielt die Augen geschlossen, und ihre Lippen waren leicht geöffnet, als hielte sie den Atem an, um den Zauber des Augenblicks durch nichts zu zerstören. Nach einer Weile setzte sich Yorn langsam auf, Vanea nicht aus seinen Armen lassend. Mit einer zärtlichen Bewegung strich er dem Mädchen eine der weichen Locken beiseite, die über ihre Wangen gerutscht war. Dann faßte er vorsichtig ihr Kinn und hob ihr Gesicht zu sich auf. Vanea öffnete die Augen nicht, und Yorn beugte sich dem lockenden Mund entgegen. Behutsam berührten seine Lippen die ihren, denn er fürchtete immer noch, Vanea könne sich ihm plötzlich wieder entziehen. Doch da spürte er zu seiner grenzenlosen Freude, dass sie ihm entgegenkam, seinen Kuss erwiderte. Da zog er sie fest in seine Arme, und nun lag in seinem Kuss die aufgestaute Sehnsucht vieler Wochen.
„Vanea, mein Liebling, mein Leben“, murmelte er, als er sich endlich von ihr löste, „darf ich nun immer noch nicht sagen, dass ich dich liebe?“
Statt einer Antwort suchten Vaneas Lippen erneut seinen Mund, und Yorn war es, als müsse sein Herz vor Glück zerspringen. Nach einer Weile schob Vanea Yorn behutsam von sich fort.
„Komm, wir haben einen Auftrag zu erledigen, erinnerst du dich?“ sagte sie lächelnd. „Wenn du selbst mit der Verletzung auch nicht jagen kannst, so müssen wir doch zumindest die anderen benachrichtigen, dass einer von ihnen ein Wild schießen muss. Ich kann leider meine Nahrung nicht mehr aus dem Nebel ziehen und habe daher auch Hunger.“
Dann sah sie sich entsetzt um. „Der Nebel!“ rief sie erschrocken. „Er ist fort! Wie sollen wir nun hier herauskommen?“
Verwundert sah Yorn sie an. „Den Nebel hat die Sonne aufgesogen“, sagte er verständnislos. Dann sah er sich um. Bestürzt sprang er auf, doch dann griff er sich taumelnd an den Kopf. „Bei Saadh, der Stoß war heftiger, als ich dachte“, stöhnte er. „Aber sag mir nur, wie - bei allen Göttern - bist du hier heruntergekommen? Die Wände dieses Spalts sind glatt wie eine Schwertklinge. Gibt es denn hier irgendwo einen Abstieg?“
„Nein!“ antwortete Vanea niedergeschlagen. „Und jetzt, wo der Nebel fort ist, kann ich nicht einmal die anderen zur Hilfe holen. Der Nebel half mir, zu dir hinunterzukommen, aber ohne ihn komme ich auch nicht mehr hinauf.“
„Du kannst immer noch dem Nebel gebieten?“ staunte Yorn. „Er trug dich hier herunter? Und würde dich auch wieder zurückbringen? Ich dachte, du hättest diese Kräfte verloren.“
Vaneas Gesicht verschloss sich. „Ich werde immer ein Wesen aus dem Nebelreich bleiben“, sagte sie, und in ihre Augen trat Ablehnung und Verachtung. „Auch wenn ich noch so menschlich scheine - ich bin Vanea aus dem Herrschergeschlecht dieses Landes, und etwas davon wird immer in mir bleiben. Es tut mir leid, dass du dich in mir täuschtest. Ich wollte dich mit meinem unheimlichen Wesen nicht noch einmal erschrecken, verzeih'! Du kannst sicher sein, dass ich dir nicht noch einmal Abscheu verursachen
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