Das Orakel von Antara
sie, und kurze Zeit später vernahm sie über sich auf den Felsen ein Geräusch. Sie schaute auf und sah Revens Kopf über die Felskante lugen. Neben ihm tauchte Kandons Gesicht auf.
„Um Saadhs Willen! Was ist geschehen?“ rief er. „Wie kommt ihr beide dort hinunter?“
„Yorn ist in den Spalt gestürzt“, rief Vanea zurück. „Er ist verletzt und ohne Bewusstsein.“
„Ich komme hinunter“, rief Reven. „Halte mich am Seil“, sagte er zu Kandon. „Ich muss sehen, wie schwer Yorn verletzt ist.“
Er knotete sich ein Ende des Lederriemens um die Brust, und von Kandons starken Armen gehalten kam er die glatte Felswand herunter. Drei Minuten später kniete er neben Yorn und untersuchte die Wunden.
„Die Verletzungen sind nicht gefährlich“, sagte er dann. „Aber er muss hart mit dem Kopf aufgeschlagen sein, und das mag der Grund sein, dass er immer noch ohne Bewusstsein ist.“ Als er Vaneas Erschrecken sah, lächelte er. „Mach' dir nur keine zu großen Sorgen. Yorn hat einen harten Schädel, der schon so manche Beule heil überstanden hat. Wir werden ihn ins Lager schaffen, und du wirst sehen, nach ein oder zwei Tagen Ruhe ist er wieder auf dem Damm.“ Dann schaute er die Felswand empor und schüttelte ungläubig den Kopf. „Saadh hat auch hier seine Hand schützend über ihn gehalten“, sagte er staunend. „Es ist ein Wunder, dass er sich nichts gebrochen hat bei einem Sturz aus dieser Höhe.“ Plötzlich guckte er Vanea verdutzt an. „Aber sag mal, wie bist du denn hierhin gekommen? Du bist doch nicht etwa auch gefallen?“ Er faßte sie genauer ins Auge. „Nein, du bist völlig heil. Hast du irgendwo einen Abstieg entdeckt? Wo ist er, damit Kandon mir helfen kann, Yorn hinaufzutragen?“
„Es gibt keinen Abgang“, antwortete Vanea. „Ich werde euch später erzählen, wie ich hier herunter kam. Wir müssen Yorn wohl an dem Seil nach oben ziehen.“
Irritiert sah Reven sie an. Doch dann rief er Kandon zu: „Glaubst du, dass du es schaffst, Yorn und mich auf einmal nach oben zu ziehen? Dann lass’ das zweite Seil herunter!“
„Warte einen Augenblick“, antwortete Kandon, „ich werde es erst irgendwo sichern.“
Sein Kopf verschwand von der Felskante. Wenig später jedoch fiel das Ende des zweiten Seils zu Reven hinunter.
„Hilf mir, Yorn anzubinden“, sagte Reven zu Vanea. „Kandon wird uns dann nach oben ziehen und ich werde dabei darauf achten, dass Yorn nicht ins Schwingen gerät und gegen den Felsen schlägt.“
„Wird Kandon es denn schaffen, euch beide auf einmal nach oben zu ziehen?“ fragte Vanea zweifelnd.
Reven lachte. „Du kennst Kandon noch nicht! Wenn wir noch ein drittes Seil hätten, würde er dich gleich mit heraufbefördern. Sei unbesorgt! Kandon wird uns nicht fallen lassen.“
Er hob Yorns Oberkörper von Vaneas Schoß, und sie schlang das Seil um die Brust des Verletzten. Da schlug Yorn die Augen auf.
„Reven!“ sagte er erstaunt. „Wie gut, dass ihr uns gefunden habt!“
„Man kann dich auch keinen Moment aus den Augen lassen, schon stellst du etwas an“, schimpfte Reven scherzhaft. Dann wurde er wieder ernst. „Glaubst du, dass du es allein schaffst, dich von Kandon heraufziehen zu lassen?“ fragte er.
Yorn setzte sich auf. „Bei allen Dämonen!“ stöhnte er. „In meinem Kopf dröhnen sämtliche Moradonentrommeln! Aber ich glaube, es wird gehen.“
„Meinst du wirklich, dass du es kannst?“ fragte Vanea voll Sorge. „Soll Reven dich nicht lieber halten?“
„Nein, nein, ich schaffe das schon!“ antwortete Yorn und stand auf. Einen Augenblick lang stand er schwankend da und stützte sich auf einem Felsbrocken ab. Doch dann schien der Schwindel zu vergehen. „Es kann losgehen, Kandon!“ rief er zu ihm hinauf.
Kandon begann zu ziehen. Sich weit zurücklehnend stemmte sich Yorn mit den Füßen gegen die glatte Felswand. Schon war er im oberen Drittel des Abhangs, als seine Füße plötzlich von der Wand abglitten. Vanea schrie auf, denn das pendelnde Seil warf ihn mit hartem Stoß gegen den Felsen. Einige Augenblicke drehte sich Yorns Körper schlaff über Revens und Vaneas Köpfen, dann schien er seine Benommenheit abzuschütteln.
Zu Vaneas Erleichterung hatte das Seil in Kandons Händen selbst bei dem harten Ruck durch Yorns Fall jedoch nicht einen Millimeter nachgegeben. Der H üne hielt den Riemen, als sei an seinem Ende nur ein Bund Stroh und
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