Das Orakel von Antara
werde auch nicht meine Stimme benutzen“, lächelte Vanea. „Es gibt auch noch einen anderen Weg, jemanden zu rufen. Wenn einer von den beiden für meinen Ruf empfänglich ist, wird er ihn vernehmen. Ich weiß zwar nicht, ob ihr Menschen diese Fähigkeit besitzt, aber ich muss es versuchen. Bitte, sag jetzt nichts mehr. Ich muss mich eine Weile konzentrieren.“
Sie schloss die Augen, und ihr Gesicht nahm einen gespannten Ausdruck an. Mit einer Mischung aus Hoffnung und Unglauben sah Yorn ihr zu. Nach einer Weile öffnete Vanea wieder die Augen.
„Nun? Was ist?“ fragte Yorn erwartungsvoll. „Haben sie dich gehört?“
Vanea zuckte hilflos die Achseln. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie niedergeschlagen. „Ich spürte Kandons Gedanken. Er scheint der Empfänglichere von den beiden zu sein. Aber ich weiß nicht, ob er meinen Ruf gehört hat, und wenn, ob er ihn deuten kann. Er hat nie eine solche Botschaft erhalten, und sein Geist ist unberührt wie der eines Kindes. Es kann durchaus sein, dass er meine Stimme für einen Tagtraum gehalten hat. Wir können nichts weiter tun als warten - entweder ob Kandon uns gehört hat, oder bis sie uns vermissen und uns suchen kommen. Komm, setz' dich so lange hier in den Schatten der Felswand. Ich werde derweil deine Wunde kühlen.“
Inzwischen hatten Kandon und Reven es sich im Lager gemütlich gemacht. Nach einiger Zeit jedoch wurde es Reven zu langweilig und er stand auf, um sich unweit des Lagers nach Beeren und Kräutern umzusehen. Kandon lag faul im Gras und neckte Wynn, der den Quä lgeist gutmütig gewähren ließ und nur hier und da spielerisch nach seiner Hand schnappte. Mit einmal jedoch fuhr Kandon so unvermittelt in die Höhe, dass Wynn erschreckt beiseite sprang.
„Das war doch Vanea, die da gerufen hat!“ sagte Kandon verdutzt. „Hast du das denn nicht gehört, du dummer Hund? Aber wo ist sie denn?“ Er sah sich suchend nach allen Seiten um. Dann schüttelte er verständnislos den Kopf. „Ich glaube ich träume schon am helllichten Tag!“ seufzte er und ließ sich wieder ins Gras sinken. „Wenn Vanea in der Nähe wäre, wärst du bestimmt schon hingerannt, nicht wahr, Wynn?“ Aber dann hob er wieder lauschend den Kopf. „ Und sie ruft doch!“ sagte er und stand auf. „Aber es klingt, als sei sie weit entfernt und - als sei sie in Gefahr!“ rief er auf einmal erschreckt. „Reven, Reven!“ schrie er und lief in die Richtung, in die der Freund gegangen war. „Reven, wo bist du?“
„Bei Saadh! Brüll' doch nicht so!“ schimpfte Reven und tauchte ganz in der Nähe aus einem Busch auf. „Ich bin doch nicht taub! Was schreist du denn so? Hast du dich in einen Ameisenhaufen gesetzt?“
„Reven, Yorn und Vanea sind in Gefahr!“ keuchte Kandon atemlos. „Schnell, wir müssen sie suchen!“
„Langsam, langsam, beruhige dich doch!“ Reven schüttelte den Riesen an der Schulter. „Wieso sind die beiden in Gefahr, und - sag mal - woher weißt du denn das?“
„Vanea hat mich gerufen“, sagte Kandon etwas ruhiger. „Frag mich nicht, wie - aber sie rief mich! Ich sah auf einmal einen Felsspalt und die beiden steckten drin und kamen nicht mehr heraus. Los, nimm die Wurfleine mit und dann komm! Und stell' um Saadhs willen keine dummen Fragen mehr!“
Reven sah Kandon mit offenem Mund an. So bestimmt hatte er den sanftmütigen Freund noch nie reden hören. Aber schnell fasste er sich wieder, und seine praktische Art beschäftigte sich nicht länger mit dem Warum sondern mit dem Wie. Mit langen Schritten eilte er hinter Kandon her zum Lagerplatz zurück und mit wenigen Griffen raffte er zusammen, was ihm vonnöten schien, während Kandon die langen Lederriemen über die Schulter hängte. Einige Minuten später rannten die beiden auch schon mit Wynn an der Spitze in die Richtung davon, in die sich Yorn und Vanea zur Jagd aufgemacht hatten.
Zu Vaneas größter Besorgnis war Yorn wieder ohne Bewusstsein. Mühsam hatte sie seinen schweren Körper näher an die Quelle gezogen. Nun saß sie, seinen Kopf im Schoß, an einen der Steine gelehnt. Ab und zu erneuerte sie die kühle Kompresse auf seiner Stirn, doch er kam nicht wieder zu sich. Je mehr Zeit verstrich, desto unruhiger wurde sie. Wenn Kandon ihren Ruf nicht gehört hatte, konnten Stunden vergehen, bis die beiden Freunde sie fanden. Doch plötzlich hörte Vanea von fern ihren und Yorns Namen rufen.
„Hier! Hier sind wir!“ schrie
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