Das Orakel von Antara
wiederkam, grollte er daher:
„Ziel demnächst besser! Wenn ich da noch mal ‘rein muss, hängt mir die Haut in Fetzen vom Körper.“ Damit warf er ihn Yorn wieder zu.
Wieder schwirrte das Seil, und diesmal hatte Yorn wirklich besser gezielt. Der Haken fiel über den Turmrand, Yorn zog am Seil und der Anker saß fest. Dicht neben der Mauer hing nun das Seil, das Yorn losgelassen hatte, auf den Boden nieder. Von der Mauer aus griff Yorn nach dem Seil und hing sich mit seinem ganzen Gewicht daran. Der Haken gab nicht nach. „Wenn ich oben bin, folgst du mir, Kandon!“ rief er leise nach unten.
Dann hangelte er sich - die Füße gegen den Turm gestemmt - am Seil hoch. Die anderen betrachteten von unten mit bangen Gefühlen seinen Aufstieg.
Nur Vanea stand ein wenig abseits, die Augen geschlossen, und schickte ihre Gedanken hoch zum Turm. Als Yorn fast die Höhe der Fenster erreicht hatte, stieß ihr tastender Geist auf die Ausstrahlung eines anderen. Vorsichtig drang sie weiter vor, doch dann wäre sie fast zurückgezuckt. Unsagbarer, dumpfer Jammer schlug ihr entgegen, wilde Gefühle von Hass, Schmerz und grenzenloser Verlassenheit. Und Angst - nackte, elementare Angst, die tumbe Angst einer gequälten, hilflosen Kreatur, die nicht verstand, nur fühlte. Vaneas Mitleid, nicht zu kontrollieren oder aufzuhalten, überflutete die gepeinigte Seele mit Güte, tröstend und voll Verständnis. Es schien auf einmal, als horche der Idiot im Turm in sich hinein und als kämen die wilden, verworrenen Bilder und Gefühle zur Ruhe. Willig überließ sich das arme Geschöpf den fremden Einflüssen, die wie eine streichelnde Hand ungewohntes Behagen in ihm auslösten.
Inzwischen kauerte Yorn in einer der tiefen Nischen, welche die dicken Mauern an den Fensteröffnungen bildeten. Doch der weitere Weg war ihm versperrt, denn ein eisernes Gitter war vor dem Fenster in die Mauer eingelassen. Auch das noch! Da kam aber schon Kandon. Auch er fluchte leise, als er das Gitter sah.
„Kannst du mich vorbeilassen?“ flüsterte er Yorn zu. „Dann werde ich versuchen, das Gitter so weit aufzubiegen, dass du hindurch kannst.“ Yorn rutschte so weit wie möglich zur Seite. Ein Ruck, und Kandon saß neben ihm in der Fensteröffnung.
„Du musst wieder ans Seil, sonst habe ich nicht genug Platz“, wisperte er. „Hoffentlich kann Vanea das Monster beruhigen, denn das hier wird nicht ohne Geräusch abgehen. Ich muss die Scheibe zerschlagen, wenn ich das Fenster öffnen will“.
Doch zunächst ergriff er mit seinen großen Fäusten die beiden mittleren Eisenstangen. Die Muskeln seines Rückens spannten sich zum Zerreißen, als er nun aus der ungünstigen Position heraus die Stäbe auseinanderzubiegen begann. Tatsächlich bogen sie sich und gaben in der Mitte eine schmale Öffnung frei.
„Da paßt nicht einmal Vanea durch“, maulte Yorn. „Ich bin doch keine Katze!“
„Warte, ich werde versuchen, eine der Stangen aus der Verankerung zu reißen, dann paßt du durch“, beruhigte ihn Kandon.
„Aber beeil’ dich!“ keuchte Yorn. „Ich kann mich nicht mehr lange am Seil halten. Meine Arme sind schon ganz steif.“
Nochmals zerrte Kandon mit aller Kraft an einer der Stangen, und da - mit einem knirschenden Geräusch riss sie aus der Mauer. Kandon nahm die Stange und schlug damit die Scheibe des Fensters ein. Mit lautem Klirren fielen die Splitter nach innen. Unten im Garten zuckten die Gefährten bei dem Geräusch zusammen. Reven sah sich angstvoll um, die Hand auf dem Schwertgriff. Aber nichts rührte sich. Still lag der Garten im Mondlicht. Kandon hatte inzwischen durch das Loch im Fenster gegriffen und die Verriegelung gelöst. Leicht knarrend öffneten sich die Fensterflügel. „Komm!“ flüsterte Kandon und drückte sich in die äußerste Ecke der Fensternische. Er reichte Yorn die Hand und zog ihn neben sich. Behände wand sich Yorn durch die schmale Lücke im Gitter. Dann sprang er mit einem Satz in den dahinterliegenden Raum. Hastig sah er sich um.
Das geräumige Gemach war schwach von einem roten Glühen erleuchtet, das von einer Art Altar in der Mitte ausging. Zögernd und mit wild hämmer nden Pulsen ging Yorn auf die Lichtquelle zu. - Und dann stand er vor dem Ziel aller Mühen und Gefahren: Bloors Herz! Es lag in einer goldenen Prunkschale und glühte in einem schwärzlichen Rot, das ständig auf- und abschwoll. Denn das Herz schlug! Und mit jedem Schlag leuchtete es,
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