Das Orakel von Antara
anderen huschten die vier Gefährten und Tamin hinter Lagor her durch den Gang, der zwischen den Bettreihen frei war. Nach und nach wurde die Gruppe kleiner, wenn wieder einer ein freies Bett gefunden hatte und sich behutsam unter die Decken verkroch. Zum Schluß stand nur noch Lagor allein vor dem Bretterverschlag. Er verschwand hinter der Holzwand. Wenige Minuten später folgte ein anderer Trupp Leute Lagor leise in entgegengesetzter Richtung. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, waren die Gefährten im Nu aus den Betten. Im schwachen Schein des aus dem Verschlag dringenden Lichts sahen sie, wie Tamin ihnen zuwinkte. Rasch folgten sie ihm und durchquerten das letzte Stück des Saals. Als sie kurz vor der Tür an der anderen Seite waren, fragte auf einmal eine verschlafene Stimme.
„Wer läuft denn hier mitten in der Nacht herum?“ Blitzschnell sanken die Gefährten zu Boden und verharrten mit klopfendem Herzen im Schatten der Betten. Nur Tamin war geistesgegenwärtig stehengeblieben.
„Ich bin es, Tamin!“ flüsterte er. „Schlaf nur weiter, es ist nichts. Ich musste nur dem Vater helfen, denn der König hat eine schlechte Nacht und macht mal wieder das ganze Schloss rebellisch.“
„Dass die Dämonen ihn holen mögen!“ knurrte der Mann schlaftrunken. „Jede Nacht dasselbe Palaver. Den drückt wohl das schwarze Gewissen, dass er nicht schlafen kann. Na ja, ich kann’s nicht ändern!“ gähnte er. „Schlaf gut, Tamin!“
Damit war er wieder eingeschlafen. Endlose Sekunden vergingen, bis Tamin den Gefährten signalisierte, dass die Luft rein sei. Als er die Tür des Schlafsaals hinter ihnen schloss, stießen alle den Atem aus.
„Das war knapp!“ raunte der Junge. „Ligirus ist schon fast ein halber Moradone. Er hätte sofort Alarm geschlagen, wenn er euch entdeckt hätte. Kommt jetzt! Die größte Gefahr ist erst einmal vorbei. Es ist nicht mehr weit bis zum Garten, und dort wird uns niemand begegnen.“
Sie gingen weiter, und bald darauf öffnete Tamin wieder eine Tür und sie standen im Garten. Rosenbüsche und -hecken, übersät mit im Mondlicht matt glänzenden Blüten wiegten sich leicht im Nachtwind. Der ganze Garten war erfüllt von zartem Rosenduft.
„Wie schön!“ haucht Vanea. „Wie gern würde ich das bei Sonnenlicht sehen!“
„Wenn wir noch länger hier stehen, kann das leicht passieren“, drängte Reven. „Los! Das Schwerste liegt noch vor uns.“
Dort, wo der Garten im spitzen Winkel zwischen Umfassungsmauer und Gebäude auslief, erhob sich die schwarze Silhouette des Turms. Tamin ging darauf zu, sich immer auf dem Rand der Beete haltend, damit der Kies der Wege nicht unter seinen Schritten knirschte. Die anderen folgten ihm. Dann standen sie am Fuß des Turms und schauten hoch.
„Von hier aus bekomme ich das Seil nie auf den Turm, wie ich mir schon dachte“, flüsterte Yorn. „Ich muss auf die Mauer. Kandon, Reven, macht eine Leiter!“ Im Nu lehnte Kandon an der Mauer, und Reven stieg auf seine Schultern.
„Hilf mir, Tamin“, raunte Yorn, „und dann gib mir das Seil an!“ Schon stand er mit einem Fuß in Kandons verschränkten Fingern. Ein kurzer Hilfsschwung von Tamin, und er stieg weiter in die gefalteten Hände von Reven. Dabei trat er Kandon auf den Kopf, und dieser fluchte unterdrückt.
„Gib Acht, wo du hintrittst!“ knurrte er leise. „Ich brauche meinen Kopf vielleicht noch.“
Ein letzter Schwung und Yorn stand auf der breiten Mauerkrone. „Wirf das Seil hoch, Tamin!“ rief er gedämpft nach unten. „Aber gib Acht, dass der Haken nicht so laut klirrt!“
„Das kann er nicht!“ meldete sich Vanea. „Ich habe ihn vorsorglich mit Stoffstreifen umwickelt.“
„Kluges Mädchen!“ Yorn lachte leise. „Auf was du alles kommst!“ Dann fing er geschickt den dreiarmigen Haken auf, den Tamin zu ihm hinauf warf, und zog das Seil nach. Mit angehaltenem Atem sahen die drei anderen unten zu, als er jetzt den Anker am Seil wirbeln ließ. Dann ließ er ihn fliegen. Der Anker landete mit dumpfem Laut auf dem gezackten Rand des Turms, doch er rutschte von der schrägen Lisene ab und fiel raschelnd in einen großen Rosenbusch.
„Verdammt!“ zischte Yorn. „Hol ihn wieder, Reven!“ Reven rannte los und versuchte, den Anker aus dem dichten Gebüsch zu befreien. Dabei machte er unsanft Bekanntschaft mit den Dornen, was ihn nicht gerade heiter stimmte. Als er endlich mit dem Ding
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