Das Orakel von Margyle
parierte die Schläge. Nachdem er einmal seinen Rhythmus gefunden hatte, konnte er zwei Feinde in Atem halten.
Er landete einen Treffer, der aber nur ein wenig an der Rüstung des Han kratzte. Als er den Arm wieder hob, fühlte er, wie eine hanische Klinge heranzischte und ihn unterhalb der Rippen traf. Die verzauberte Lederrüstung verhinderte das Schlimmste. Der Hieb hätte ihn sonst erschlagen können. Er kämpfte mit dem Gleichgewicht, war in Gefahr zu straucheln, da hörte er, wie der Han, der ihn getroffen hatte, einen Schmerzensschrei ausstieß, und Boyd Tanner schrie: “Einer weniger, um den Ihr Euch Sorgen machen müsst, Sire!”
Jemand sprang herbei und lenkte den zweiten Angreifer ab. Jetzt hatte er es also nur noch mit einem zu tun – für seinen Gegner kaum ein fairer Kampf. Allerdings begann Rath seine Wunde zu spüren. Seine Bewegungen wurden langsamer, die Kraft seines Angriffs ließ nach. Sein Gegner war jung, stark, schnell und wild. Rath wankte und konnte kaum den nächsten mächtigen Schlag abwehren.
Als die beiden Klingen aufeinandertrafen, zog es Raths Blick zum Helm des jungen Han. Irgendetwas daran war seltsam. Statt des normalen üppigen Schweifs ragte nur ein kurzes hellblondes Haarbüschel daraus hervor. In diesem Moment erkannte der Han etwas Vertrautes in Raths unbarmherzigem Blick. Er machte große Augen und das Kinn fiel ihm herunter. “Ihr!”
“Ich!” Rath grinste. Frische Kraft erfüllte ihn. Er stieß den jungen Han zurück und fasste den Schwertknauf fester, um erneut anzugreifen. “Sagt nicht, ich hätte Euch nicht gewarnt, Junge. Einmal habe ich Erbarmen mit Euch gehabt. Erwartet es kein zweites Mal.”
“Maura, seid Ihr das?”, fragte Delyon erleichtert, als sie in ihr Versteck schlüpfte. “Dem Allgeber sei Dank! Ihr seid heil und gesund!” Er tastete sich durch die Dunkelheit zu ihr und schloss sie besorgt in die Arme. “Ich hatte entsetzliche Angst um Euch. Aber was ist eigentlich genau geschehen? Ich verstehe es immer noch nicht.”
Maura hatte bis jetzt nicht gewagt, ihrer Abscheu Luft zu machen. Nun konnte sie sich nicht länger zurückhalten. Sie begann zu zittern und wurde von einem rauen, trockenen Schluchzen geschüttelt. Ihre Knie gaben nach, und wenn Delyon sie nicht aufgefangen hätte, wäre sie zu Boden gefallen.
“Was ist passiert?” Er ließ sich langsam niedersinken, während sie sich an ihn klammerte. “Seid Ihr verletzt?”
“Nein.” Sie hatte das Gefühl, zu lügen. Körperlich war sie zwar unversehrt, doch lieber hätte sie die schlimmste Folter der Echtroi ertragen als diese Tortur des Herzens und des Verstands. Das einzige bisschen Trost kam von den warmen Armen, die sie umfingen, und der besorgten Stimme an ihrem Ohr.
Ein Teil von ihr wünschte, es wäre Rath, der sie hielt, oder Langbard. Ein anderer Teil war froh, dass es nicht so war. Was würden sie nur denken, wenn sie Bescheid wüssten? Wie würde es ihre Gefühle für sie beeinflussen? Rath hatte sich während der letzten Tage auf Margyle ihr gegenüber verändert … war barsch und misstrauisch geworden. Kein Wunder.
Delyon strich ihr übers Haar. “Wenn Ihr nicht verletzt seid, was ist es dann?” Durch seinen Körper ging ein Ruck. “Haben die Han Velorkens Stab gefunden?”
“Nein!”, keuchte Maura, froh, wenigstens jetzt die Wahrheit zu sagen.
“Dem Allgeber sei Dank!” Delyons Anspannung verschwand so rasch, wie sie gekommen war. “Aber was ist denn dann geschehen, dass Ihr so aus der Fassung seid? Es muss etwas Schreckliches sein, denn die ganze Zeit war Eure Kraft nicht zu erschüttern – selbst als die Han uns gefangen nahmen. Ich weiß, auf dieser Suche war ich mehr eine Last für Euch als eine Hilfe. Doch ich verspreche Euch, was immer auch geschehen ist, ich will alles in meiner Macht Stehende tun, um zu helfen.”
“Ihr … habt schon geholfen”, stieß Maura hervor. “Mehr … als Ihr … wisst.”
“Mit der Zeit habe ich mich schon nützlich gemacht, nicht wahr?” Delyons leises Lachen hatte eine seltsam beruhigende Wirkung. “Jetzt kommt schon, sagt mir, was Euch bekümmert. Alles für sich zu behalten, macht es nur schlimmer – ich kenne das.”
Sie hatte nicht vor, es ihm oder irgendjemandem zu erzählen – zumindest noch nicht. Es war besser, ihr schändliches Geheimnis zu hüten – so, wie es ihre Mutter getan hatte. Selbst bis in den Tod und darüber hinaus. Doch im Schutz der Dunkelheit fühlte sie sich in Delyons Armen so
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