Das Orakel von Margyle
Blick auf die untergehende Sonne schüttelte Delyon den Kopf. “Wir haben mindestens noch eine Stunde Tageslicht. Wir sollten zügig weiterreiten.”
Das waren mehr Worte, als er den ganzen Tag über gesprochen hatte. Fing er langsam an, sich zu entspannen? Vielleicht doch nicht, denn mit bitterem Spott fügte er hinzu: “Sagtet Ihr nicht, wir müssten eine Stunde länger marschieren als die hanische Armee und eine Stunde vor ihr aufbrechen, wenn wir die östlichen Gegenden rechtzeitig erreichen wollen?”
“Das war, bevor wir Pferde hatten.” Maura hielt ihr Pferd an. “Sie bringen uns schneller vorwärts, doch es kann gefährlich sein, sie im Dunkeln über einen so steilen Pfad zu führen.” Sie versuchte beides zu sein, versöhnlich und bestimmt. Sie verstand Delyons Ärger und Misstrauen, aber sie wollte nicht darauf eingehen. “Hier gibt es Wasser.” Sie deutete auf ein Rinnsal, das über die Felsen rieselte. “Und etwas Gras für die Pferde. Wir würden vielleicht vor Anbruch der Nacht auf einen ähnlich guten Platz treffen, aber ich möchte mich nicht darauf verlassen.”
Mit einem widerwilligen Knurren, das seine Kapitulation anzeigte, stieg Delyon aus dem Sattel.
Maura spürte ein Zupfen an ihrem Mantel. Sie sah zu Songrid zurück. “Verzeiht. Ich hätte Euch fragen müssen, was Ihr über die Sache denkt. Schließlich sind es Eure Pferde.”
Während er sein Pferd aus einer flachen Mulde im Felsen trinken ließ, brummte Delyon auf Umbrisch: “Sie
fragen
, aber mich
herumkommandieren!
Man wird uns noch im Schlaf umbringen.”
Maura ignorierte ihn. “Glaubt Ihr, dass das hier ein guter Platz für die Nacht ist? Oder sollten wir weiterreiten?”
Die Frau antwortete mit einer Frage. “Was meint der Mann damit, wenn er sagt, die östlichen Gegenden erreichen? Gehen wir nicht zuerst zu den Minen und suchen nach Eurem Ehemann?”
“Ach, das.” Maura kletterte vom Pferd. “Lasst uns darüber während des Essens reden.”
Zu ihrer Erleichterung schien Songrid nicht verärgert darüber zu sein, dass sie in die Irre geführt worden war. “Ihr seid eine gute Lügnerin.” Ihre Worte klangen bewundernd. “Als Ihr Kez von Eurem Mann erzähltet, klang das alles sehr wahr.”
“Es stimmt schon, ich sehne mich danach, ihn wiederzusehen. Allerdings
jenseits
der Berge, nicht
in
den Bergen.”
“Um so besser.” Während sie ihr Brot kaute, blickte Songrid in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren, über die weite Ebene von Westborne, die von den letzten Sonnenstrahlen beleuchtet wurde. “Ich werde mich sicherer fühlen, wenn wir Eure östlichen Gegenden erreicht haben.”
Maura warf Delyon einen Blick zu. Aber der achtete nicht auf sie, saß einige Schritte von ihnen entfernt und drehte ihnen fast den Rücken zu. Er fuhr fort zu essen, wenn auch irgendwie anders als zuvor – so, als wäre er nicht mehr ganz so überzeugt davon, dass jeder Bissen vergiftet war.
“Was ist mit Eurem Ehemann?”, fragte Maura. “Tut es Euch überhaupt nicht leid, ihn zu verlassen?”
“Kez ist nicht mein Ehemann.” Songrid starrte in die zunehmende Dunkelheit. “Ich wurde ihm als eine Art … Dienerin gegeben, nachdem mein Herr mich davongejagt hat, weil ich keine Kinder bekam.”
“Das … tut mir leid.” Das klang dürftig, aber Maura fiel nichts Besseres ein.
“Bemitleidet mich nicht. Mein Volk verachtet Frauen wie mich, aber ich denke, wir sind noch die Glücklicheren.”
Kein Han griff sie in der Nacht an, was Delyon zu überraschen schien. Am nächsten Tag wechselten er und Songrid kein einziges Wort und er gab vor, nicht zuzuhören, als sie Maura mehr von ihrer Geschichte erzählte. Doch als sie am nächsten Abend stürzte und sich den Knöchel verstauchte, bereitete er einen Umschlag vor, und bevor Maura noch begriff, was geschehen war, hatte er ihn bereits um Songrids Fuß gewickelt.
Am nächsten Morgen nahm er Songrid auf seine Arme und hob sie aufs Pferd. Bis sie das Lange Tal erreichten, war er ausgesprochen aufmerksam ihr gegenüber, und Maura fragte sich, ob er sein anfängliches Misstrauen bereute. Oder ob er zu beweisen versuchte, dass nicht alle Männer so waren wie die, die Songrid kennengelernt hatte.
19. KAPITEL
N ach einem weiteren langen Tag im Sattel stolperte Rath hungrig, müde und voller Sorgen in sein Zelt. Er sagte sich, dass er für des Allgebers Segen dankbar sein sollte. Was das Vorankommen seiner Armee im Langen Tal betraf, konnte er über einen Mangel an
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