Das Orakel von Margyle
zum Schweigen.
“Die Schriften sagen, dass Abrielle später den Stab in einer Burg versteckte”, fuhr Delyon fort, “die jetzt vom Ersten Statthalter der Han besetzt gehalten wird. Ich glaube, dass unsere Auserkorene Königin, eine direkte Nachfahrin Abrielles, die Fähigkeit besitzt, zu finden, was ihre Ahnin versteckte.”
Maura überlief ein Schauer, als sie mit plötzlicher Sicherheit spürte, dass Delyon die Wahrheit sprach. Sie machte sich auf eine Erwiderung Trochards gefasst, doch stattdessen vernahm sie ein feindseliges Knurren von Rath. “Ihr wollt damit sagen, dass meine Frau in den Palast des Ersten Statthalters geschickt werden soll, um dort nach irgendeinem magischen Stab herumzustöbern, von dem Ihr
vermutet
, dass er dort ist und dass meine Frau ihn finden kann?” Er sprang auf und nahm unwillkürlich die Haltung eines Kämpfers ein, der angegriffen wurde. “Das ist zu gefährlich. Ich erlaube es nicht!”
“Aber Hoheit …” Delyon schreckte vor Raths wildem Zorn zurück. “Ohne die Waffe …”
“Ich pfeife auf den Stab!”
Alle Weisen des Rats schnappten gleichzeitig nach Luft.
“
Aira.”
Maura legte Rath die Hand auf den Arm. Sie konnte spüren, wie angespannt seine Muskeln waren. “Du bist König in der Ratskammer, schon vergessen?”, flüsterte sie.
Idrygon stellte sich neben seinen Bruder. “Hoheit, wenn Ihr und der Rat uns nur zu Ende anhören würdet.” Sein Ton bat Rath um Solidarität, wenigstens so lange, bis sie unter vier Augen die Sache ausdiskutieren konnten.
“Meinetwegen.” Rath ließ sich wieder in seinen Sessel fallen. “Aber nichts, was Ihr sagt, kann mich dazu bringen, Maura einer Gefahr auszusetzen.”
Was hatte ihn nur so gereizt? Es war doch nicht so, als ob sie noch nie in Gefahr geschwebt hätte – manchmal sogar seinetwegen. Zwar gefiel ihr der Gedanke, das schwarze Herz der hanischen Gewaltherrschaft zu erkunden, ganz und gar nicht, doch sie bezweifelte, dass Delyon diesen Vorschlag gemacht hätte, wenn es einen anderen Ausweg gäbe.
“Nein!” Rath ging erregt im Innenhof von Idrygons Haus auf und ab. “Es muss einen anderen Weg geben.”
Idrygon blieb mit Maura und Delyon am Tisch sitzen. Das Geschirr des Abendessens war abgeräumt und die Damen des Hauses hatten sich entschuldigt und zurückgezogen. Bis jetzt hatte Rath den heldenhaften Versuch gemacht, sich zu beherrschen. Doch es war ein langer, ermüdender Tag in der Ratskammer gewesen. Und er war ein Mann der Tat – all das Reden, das Diskutieren, das ganze Hin und Her gaben ihm das Gefühl, langsam von den starken Wänden erdrückt zu werden. Er musste seinen Gefühlen Luft machen, bevor er platzte!
“Nun, Hoheit”, sagte Idrygon in einem Ton, den Rath hasste – als würde er versuchen, ein widerspenstiges Tier zu beruhigen. “Ihr habt gehört, was Delyon und ich dem Rat sagten. Wir brauchen Velorkens Zauberstab, wenn wir die Echtroi besiegen wollen. Ihre Hoheit wird diese Mission nicht allein durchführen. Delyon wird mit ihr gehen.”
“Er wird bestimmt eine große Hilfe sein”, brummte Rath.
Kaum war es ihm gelungen, nicht mehr über diese Prophezeiung nachzugrübeln, indem er sich entschlossen hatte, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Schaden von Maura abzuwenden, da wurde er von dieser neuen Idee überrascht, als wollte man ihm beweisen, dass er gegen das Schicksal nichts ausrichten konnte. So viel also zu gewissen Irrgärten an Bergen und der Vorstellung, die Menschen hätten ihr Leben unter Kontrolle!
“Es ist ja nicht so, als würden wir zu den Burgtoren marschieren und um Einlass bitten.” Delyons selbstgefälliges Grinsen weckte in Rath die Lust, ihn kopfüber in den Brunnen zu werfen. Verdammt noch mal, wenn es um Mauras Sicherheit ging, verstand er keinen Spaß!
“Erzählt mir mehr über diesen magischen Wirkstoff, der uns unsichtbar machen wird, Delyon.”
Was sollten diese Worte? Raths Gesicht verdüsterte sich noch mehr. Wieso redete Maura, als hätte sie die Absicht, mitzumachen?
“Es ist nichts Neues”, sagte Delyon. “Tatsächlich kannte und benutzte man es schon vor vielen Jahren, aber die Genows wurden immer weniger. Auch bestand für die Leute keine Notwendigkeit mehr, unsichtbar zu sein, und so geriet der Zauber nach und nach in Vergessenheit. Das war eine der Entdeckungen, die ich beim Entziffern der alten Schriftrollen machte. Sie bewies einer Anzahl von Leuten, dass ich wirklich fähig bin, die alten Schriften zu lesen.”
Rath
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