Das Orakel von Margyle
hatte einmal einen flüchtigen Blick auf einen Genow erhaschen können, als er und Maura auf Tolin waren. Diese winzigen Wesen besaßen die unheimliche Fähigkeit, ihre Hautfarbe genau ihrem Versteck anzupassen, in dem sie sich gerade verbargen.
“Dann benutzt der Zauber also Schuppen eines Genows – ähnlich wie bei dem Sturmvogelzauber, den Langbard mich lehrte?”
“Er wirkt besser als Sturmvogelfedern.” Delyon lehnte sich in seinem Stuhl zurück und leerte seinen Kelch Wein. “Es gibt jetzt mehr Genows als früher, besonders auf einigen der kleineren Inseln. Und ihr Zauber hält länger an.”
Rath hieb mit der Faust auf den Tisch. Mit einem Wutanfall wie diesem hatte er früher in den Tagen als Gesetzloser oft seinen Willen durchgesetzt. “Unsichtbar sein ist nicht dasselbe wie in Sicherheit sein! Denkt dran, die Han haben auch Ohren. Und ihre Hunde haben Nasen. Oder ihr könntet zufällig mit jemandem oder mit etwas zusammenstoßen.”
Maura sah nicht aus, als würde sein Ausbruch sie sonderlich erschüttern. Der Blick, den sie auf ihn heftete, erinnerte Rath daran, wie seine Großmutter ihn immer angesehen hatte, wenn er sich als Kind danebenbenahm.
“Wir werden nicht am helllichten Tag dort herumspazieren und nach dem Zauberstab suchen, oder?”, fragte Maura Delyon gerade so, als hätte sie Rath überhaupt nicht gehört. “Wir werden den Unsichtbarkeitszauber dazu benutzen, uns zu einer ruhigen Zeit in den Palast zu schleichen. Wir werden einen Platz finden, an dem wir uns tagsüber verstecken können, während wir nachts auf die Suche gehen.”
“Genau so, Hoheit!” Delyon strahlte Maura so bewundernd an, dass Rath ihm am liebsten das Lächeln aus seinem hübschen Gesicht geprügelt hätte … nur hätte das Maura noch wütender gemacht.
Wieso ärgerte es sie derart, dass er sie in Sicherheit wissen wollte? Hatte er ihr denn nicht etwas in dieser Art während der Hochzeitszeremonie versprochen? Wozu sollte ein Mann einen solchen Eid ablegen, wenn er ihn doch nicht hielt?
“Ich bezweifle, dass wir lange suchen müssen”, fuhr Delyon fort. “Sobald wir den Stab haben, bringen wir ihn so schnell wie möglich zu Seiner Hoheit und vermeiden weiteres Blutvergießen.”
“Worin besteht denn überhaupt die Zauberkraft dieses Stabs?” Kaum war die Frage gestellt, wünschte Rath, er könnte sie zurücknehmen. Das klang ja gerade so, als wäre er mit dem gewagten Plan einverstanden.
“Die Kraft des Stabs ist sehr einfach, aber wirkungsvoll, Sire”, sagte Idrygon, der bis jetzt ungewöhnlich still gewesen war.
“Ja?” Rath verschränkte die Arme vor der Brust.
“Es erfüllt einen Wunsch, Hoheit.” Idrygon schien sich das Wort auf der Zunge zergehen zu lassen. “Einen einzigen, uneingeschränkten Wunsch.”
11. KAPITEL
E inen Wunsch. Wenn Maura in den Tagen nach der Ratssitzung einen Wunsch frei gehabt hätte, dann hätte sie sich gewünscht, Rath wäre nicht so sturköpfig! Immer und immer wieder hatten sie darüber gesprochen – im Rat, privat mit Idrygon und seinem Bruder und allein unter vier Augen. Um Umbria mit möglichst geringen Verlusten zu befreien, war es unverzichtbar, Velorkens Stab zu finden.
“Was ich nicht verstehe, ist”, sagte Maura, als sie, Rath und Idrygon zur westlichen Küste von Margyle ritten, um dort zwei Schiffe vom Stapel zu lassen, “warum diese Invasion und die Schlachten überhaupt notwendig sind.” Beide Männer sahen sie an, als wäre sie nicht recht gescheit, aber Maura ließ sich nicht entmutigen. “Wenn Velorkens Zauberstab die Macht hat, Umbria von den Han zu befreien, wieso kommt Rath dann nicht mit Delyon und mir nach Venard? Wir könnten den Palast durchsuchen, den Stab finden, den Wunsch äußern und alles wäre gut.”
In Raths Augen konnte sie Zustimmung aufblitzen sehen, doch Idrygon antwortete mit einem leicht verächtlich klingenden leisen Lachen: “Wenn das nur so einfach wäre, Hoheit. Glaubt mir, das alles wurde über viele Jahre hinweg geplant. Unsere Invasion der Nordküste ist nötig, um die hanischen Reserven von Westborne abzuziehen, damit Ihr Venard sicher erreichen könnt.”
Maura war noch nicht überzeugt, und er fügte hinzu: “Für die Festlandbewohner ist es außerdem eine notwendige Demonstration. Sie sollen sehen, dass der Wartende König gekommen ist, um sie zu befreien. Wenn sie einfach nur eines Morgens aufwachen und feststellen, dass die Han fort sind, befürchte ich ein Chaos. So aber werden sich seine
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