Das Orakel von Margyle
Maura wünschte, er würde gehen und sie in Frieden nachdenken lassen. Doch nachdem sie so grob zu ihm gewesen war, fühlte sie sich verpflichtet, einen weiteren seiner weitschweifenden Vorträge über alte Schriften zu ertragen.
“Oh ja.” Delyon beugte sich zu ihr. “Der Teil, den ich bis jetzt übersetzen konnte, legt die Vermutung nahe, dass er einen speziellen Zauberspruch für tiefe Meditation enthält.”
“So?”
Mehr Ermutigung brauchte es nicht. Schon stürzte er sich in eine endlose Erklärung darüber, wie er hinter die Bedeutung einiger Symbole gekommen war, während andere ihm weiterhin Rätsel aufgaben. Seine Worte schwappten über Maura hinweg wie das endlose Rollen der Wellen, während sie zusah, wie in der Ferne Margyle kleiner und kleiner wurde.
Für einen kurzen Moment weckten Delyons Worte dann doch ihre Aufmerksamkeit. Er sagte etwas über ein Ritual, das verschüttete Erinnerungen, die ihr von Königin Abrielle gegeben worden waren, wieder zurückholen könnte.
“Wenn das so wichtig ist”, sagte sie schließlich, “sollte ich Euch nicht von Eurer Arbeit abhalten. Wenn Ihr mich entschuldigen wollt, ich muss mit Captain Gull sprechen.”
“Wie Ihr wünscht.” Delyon schien den Verlust ihrer Gesellschaft nicht sonderlich zu bedauern. “Ich hoffe, ich finde ein windstilles Plätzchen, wo ich arbeiten kann.”
Mit einem Mal überfielen Maura Gewissensbisse. Delyon war ein netter, harmloser Bursche, und er hatte sie gerade in dem Moment von ihrem Kummer abgelenkt, als der sie zu überwältigen drohte. “Möge der Allgeber Euch Erleuchtung schenken.”
Und möge der Allgeber ihr ein wenig Frieden schenken, auch wenn sie ihn wahrscheinlich nicht verdient hatte. Nach all den schönen Versprechungen, die sie Rath in der verzauberten Morgendämmerung ihrer Hochzeit gegeben hatte, hatte sie sich schon beim ersten Donnergrollen und den ersten dunklen Wolken in ihrer Ehe von ihm abgewandt. Die Schuld lag durchaus nicht nur bei ihr – er war so unvernünftig und reizbar gewesen und so fürchterlich stur! Aber auch sie hatte keine Geduld aufgebracht … und war vielleicht auch ein klein wenig stur gewesen.
Rath war schließlich nur um ihre Sicherheit besorgt. Wäre es so schlimm gewesen, ihm zu versichern, dass auch sie sich um ihn ängstigte, anstatt seine Ängste einfach wegzuwischen und sämtliche Gründe aufzuzählen, weswegen sie sie für abwegig hielt? Sie hätte ihm versprechen können, so vorsichtig wie nur möglich zu sein, und ihn um dasselbe Versprechen bitten können. Von ihnen beiden war er derjenige, der größeren Gefahren begegnen würde.
Maura erschrak, als etwas Warmes, Weiches sich an ihren Knöcheln rieb. Sie hob den Saum ihres Gewands hoch und entdeckte Gulls Wildkatze, die ihr schnurrend um die Beine strich.
“Da bist du ja, Abri!” Mit einem Mal tauchte Gull hinter Maura auf. “Du sollst die Königin nicht belästigen, du ungezogenes Mädchen!”
Er legte die Katze auf ihren üblichen gemütlichen Platz um seinen Nacken.
“Das macht doch nichts.” Maura brachte ein etwas zittriges Lächeln zusammen. “Ich staune nur, dass Abri sich so freundlich benimmt. Es ist das erste Mal, dass sie in meiner Nähe ist, ohne mich anzufauchen.”
Gull hob die Hand und kraulte die Katze hinter den Ohren. “Ich sagte Euch doch schon, sie ist ein eifersüchtiges Wesen. Vermutlich weiß sie jetzt, dass Ihr zu jemand anderem gehört und keine Gefahr für sie seid.”
Bei seinen Worten stiegen Maura wieder die Tränen in die Augen. Sie gehörte zu Rath – sogar die Lieblingskatze eines Schmugglers wusste das. Als ihr dann eine Träne über die Wange lief, hatte sie nicht mal das Bedürfnis, sie vor Gull zu verbergen. Obwohl sie nicht so recht wusste, warum. Vielleicht, weil der zähe kleine Schmuggler sie in vielerlei Hinsicht an ihren großen wilden Gesetzlosen erinnerte. Das raue Klima der hanischen Tyrannei hatte die beiden hart gemacht, schlau und manchmal rücksichtslos, doch es hatte nicht ihre Liebesfähigkeit zerstört.
Gull streckte die Hand aus und wischte ihre Träne mit einer Zärtlichkeit fort, die er sonst nur für seine Katze bereithielt. “Vielleicht denkt Abri, dass es Zeiten gibt, in denen weibliche Wesen zusammenhalten müssen. Ich weiß nicht, was Ihr und Lord Idrygons Bruder auf dem Festland zu erledigen habt, aber ich denke mal, es wird etwas Wichtiges sein.”
Maura nickte.
Zur Insel zurückblickend murmelte Gull: “Das macht es aber auch nicht
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