Das Orakel von Margyle
leichter, oder?”
Tränen schnürten ihr die Kehle zu. “Werde ich ihn je wiedersehen?”
“Könnte schon sein, denke ich mal.” Gull versuchte gar nicht erst, ihr die Angst auszureden, und das tröstete Maura auf seltsame Weise. “Wenn es Euch irgendwie guttut, Euch in Eurem Kummer zu baden, solange Ihr auf meinem Schiff seid, dann könnte Ihr es aus Herzenslust tun.” Seine Worte riefen bei Maura einen tränenreichen Schluckauf vor lauter Lachen hervor.
“Wenn wir erst einmal das Festland erreicht haben, müsst Ihr all das vergessen und nur noch an das denken, was Ihr zu tun habt, und keinen Kummer an Euch heranlassen, solange Ihr mit Eurer Aufgabe beschäftigt seid.”
Das erinnerte sie an etwas, worüber sie und Rath einmal gesprochen hatten. Sie hatte gefragt, ob Gefühle etwas wären, das man beiseiteschieben könne, wenn sie störten. Und ob man sie dann wieder hervorholen könne, wenn man Zeit dafür hatte. Sie erinnerte sich so deutlich an seine Antwort, dass sie fast glaubte, seine Stimme zu hören:
So, wie du es sagst, klingt es, als wäre das etwas Schlechtes.
“Die Leute würden vielleicht sagen, dass ein Schmuggler mit einer Königin nicht so reden darf.” Gull zog ein Gesicht und brachte Maura wieder zum Lachen. “Aber Ihr seid schließlich an Bord meines Schiffes, und da solltet Ihr besser auf mich hören.”
So herzlos es auch klingen mochte, Maura entschied, dass er recht hatte. Sorgen über eine Zukunft, die außerhalb ihrer Macht lag, und Trauer über eine Vergangenheit, an der sie nichts mehr ändern konnte, würden sie nur daran hindern, die Aufgaben zu erfüllen, die vor ihr lagen.
So viel hing vom Erfolg ihrer Mission ab – vielleicht sogar Raths Leben. Sie durfte nicht riskieren, es aufs Spiel zu setzen, nur weil sie mit ihren Gedanken nicht bei der Sache war. Irgendwie musste sie die Kraft ihrer Gefühle bündeln und sie in ihre jetzige Suche einfließen lassen. So, wie sie ihre Trauer um Langbard benutzt hatte, um ihre Entschlossenheit bei der Suche zu stärken. Sie musste einfach daran glauben, dass Rath dem Tod, wie schon so oft, ein Schnippchen schlagen würde. Und sie musste so schnell wie möglich mit dem Stab zu ihm zurückkehren.
Erst dann hatte sie die Möglichkeit, etwas gegen die Entfremdung zwischen ihnen zu unternehmen.
“Stimmt, da draußen braut sich ein Sturm zusammen”, sagte Gull am dritten Tag nach ihrem Aufbruch von Margyle. “War schon gut, dass wir zu diesem Zeitpunkt in See stachen. Erinnert mich dran, dass ich dem Orakel ein kleines Geschenk als Dankeschön mitbringe. Ob ihm ein Kätzchen gefiele, was meint Ihr?”
“Ich kann mir das schon vorstellen.” Maura gluckste. “Wieso, ist Abri …?”
“Aye, dieses böse Mädchen.” Gull zog die Katze sanft am Schwanz. “Fragt mich nicht, wie sie ans Ufer und wieder zurückkam … oder was für ein Wesen sie auf der Insel aufgetrieben hat, um sich zu vergnügen. Das fehlt uns noch auf der Phantom – ein Haufen Kätzchen!”
Bei seinen Worten musste Maura lächeln. Doch ihr Lächeln gefror, als sie über ihre Schulter blickte. Wie sprungbereite Bestien türmten sich am westlichen Horizont schwarze Wolken auf.
“Können wir dem Sturm entkommen?” Der Magen drehte sich ihr allein bei dem Gedanken um, noch einen Sturm auf offenem Meer zu erleben.
“Keine Sorge”, sagte Gull, “wir haben's nicht weit. Ich segle zu einer winzigen Insel vor der Küste. Da können wir ankern und dann unbemerkt von den Han im Sturm an Land gehen. Mit etwas Glück wird es bei Anbruch der Nacht Regen geben – ein perfekter Schutz, um Euch und Lord Delyon an Land zu schmuggeln.”
Mit dieser Vermutung erwies sich der Kapitän selbst als so etwas wie ein Orakel. Die ersten Tropfen klatschten auf Deck, als die Phantom in einer schmalen Bucht Anker warf. Die Insel verdiente kaum diesen Namen. Es handelte sich eher um einen Fels, auf dem einige kümmerliche Bäume wuchsen. An einem klaren Tag hätte es noch eine Stunde oder mehr bis zum Einbruch der Dunkelheit gedauert. Doch mit den Sturmwolken, die den westlichen Horizont bedeckten, war der Himmel Gulls Meinung nach bereits finster genug.
“Lasst uns aufbrechen!” In seiner Verkleidung als buckliger alter Fischer winkte er Maura und Delyon an den Rand des Decks. “Bevor es noch schlimmer wird.”
Ein Windstoß riss Maura die Kapuze vom Kopf, während sie die Strickleiter zu einem Boot hinunterkletterte, das neben der Phantom auf dem Wasser tanzte. Als sie sich
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