Das Orakel von Margyle
ironisch. “Für die nächsten Wochen oder so.”
“Was ist das für ein Ort?”, fragte Maura.
“Man nannte ihn Ven Gyllia …”
“Versammlung der Weisen”, murmelte Delyon. “Ich habe davon gehört. Es handelte sich um eine Gemeinschaft von Gelehrten und Weisen, die junge Zauberer und Magierinnen ausbildeten.”
“Vermutlich sind alle nach Margyle geflohen, nachdem die Han eingefallen waren”, sagte Maura. Das Grünfeuer hatte den Zweig in ihrer Hand fast verzehrt. Sie sah sich nach einem weiteren um, konnte aber keinen entdecken.
Im schnell schwindenden Licht sah sie, wie Delyon den Kopf schüttelte. “Als die Han einfielen, war Ven Gyllia einer der ersten Orte, den sie angriffen. Es war ein Gemetzel. Nur wenige entkamen.”
Maura konnte es sich nur allzu gut vorstellen. Wie das Gemetzel an den Gesetzlosen im Wald von Betchwood, vor dem sie Rath gerettet hatte. Vielleicht musste es ja so sein, dass ihr Feldzug, mit dem sie die Han aus Umbria vertreiben wollten, hier begann. Vielleicht war es … Schicksal.
Schicksal.
Das Wort dröhnte in Raths Kopf, als er über das Vorschiff des Seglers, den Maura auf seinen Namen getauft hatte, nach Osten blickte. Er hörte es in dem gedämpften Klatschen der Wellen und in dem Kreischen der über dem Schiff kreisenden Seevögel.
Glaubte er noch daran, nach allem, was geschehen war? Es war verführerisch, sich dem Sieg über die Han in den kommenden Schlachten sicher zu sein. Doch wenn er das glaubte, dann musste er auch an die Prophezeiung des Orakels über seine persönliche Zukunft glauben.
Raths übergroße Faust umklammerte die Reling. Dann wollte er doch lieber ein wenig Ungewissheit ertragen. Er spürte, dass jemand hinter ihm stand. Als er über die Schulter blickte, entdeckte er Idrygon, der genauso in Gedanken versunken zum Horizont starrte wie er kurz zuvor.
“Dreißig Jahre habe ich gewartet und auf diesen Tag hingearbeitet”, murmelte Idrygon. “Es gab Zeiten, da habe ich mich gefragt, ob er je kommen würde.”
Rath ließ den Blick über die kleine, aber gefährliche Flotte schweifen, die losgesegelt war, um die Heimat zurückzuerobern. In all den Jahren, in denen er selbst über nichts anderes nachgedacht hatte als über seinen nächsten Diebstahl, hatte Idrygon daran gearbeitet, das hier wahrzumachen. Und das war, wie Rath in den letzten Wochen begriffen hatte, keine leichte Aufgabe gewesen.
“Ich erinnere mich, wie ich zur Küste zurücksah, als unser Schiff fortsegelte”, meinte Idrygon nachdenklich. “Sah, wie von einigen Häusern, die unser Feind in Brand gesteckt hatte, Rauch aufstieg. Damals schwor ich, dass ich eines Tages mit einer Armee zurückkehren und die Han von unserer Küste vertreiben werde.”
Warum hatte der Allgeber nicht Idrygon zum Wartenden König bestimmt?, fragte sich Rath. Der Mann war viel begieriger darauf, die schwere Bürde zu übernehmen, und war viel besser dafür geeignet als er.
Sein Blick schweifte nach Süden, dorthin, wohin es sein Herz und all seine Sinne zog. “Glaubt Ihr, dass sie noch vor dem Sturm die Küste erreicht haben?”
Während des Sturms war Rath an einem einsamen Küstenstreifen von Margyle entlanggewandert, hatte auf die tobenden Fluten hinausgeschaut und versucht, die Wellen zu beschwören, Maura zu verschonen.
Idrygon schreckte aus seinen Gedanken. “Es tut mir leid, dass Ihr Euch nicht von ihr verabschieden konntet. Dem Allgeber sei Dank für die Warnung des Orakels, sonst hätte die See sie vielleicht verschlungen. Ich war nie ein Freund von Captain Gull, aber ich habe Achtung vor seinen seemännischen Fähigkeiten. Seid unbesorgt! Da er die Gefahr kannte, wird er dem Sturm entkommen sein.”
Ein winziger Hoffnungsschimmer erfüllte Raths Herz. Vielleicht war es ja mit der Vision des Orakels ähnlich wie mit dieser Sturmwarnung – vielleicht konnte er der Vorsehung durch Besonnenheit entgehen.
“Hadert nicht”, sagte Idrygon. “Ihr werdet Ihre Hoheit bald genug wiedersehen. In der Zwischenzeit müssen wir die hanischen Streitkräfte nach Norden locken, damit der Weg nach Venard für sie und meinen Bruder einigermaßen sicher ist.” Seine Finger schlossen und öffneten sich wie um einen unsichtbaren Schwertknauf. “Ich kann es kaum erwarten, dass der Kampf endlich beginnt. Ich habe noch nie das Blut eines Feindes vergossen. Noch nie den süßen Wein der Rache gekostet.”
“Ich habe beides getan.” Rath schüttelte den Kopf. “Viel zu oft. Rache ist wie ein
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