Das Orakel von Margyle
wenige erstaunte Blicke auf sich, als er Zäune übersprang und durch Höfe rannte. Sicher würde Idrygon verärgert sein, wenn er davon erfuhr, aber das war Rath egal.
Seine aufgeregten Fragen am Kai brachten zutage, dass Maura, Idrygon und Delyon vor Kurzem in einem Lastkahn abgelegt hatten.
“Ein Boot”, murmelte Rath und suchte nach einem kleinen Schiff, das er steuern konnte.
Mittlerweile war es fast Mittag und die meisten Boote waren eifrig dabei, hinaus zur Flotte auszulaufen. Endlich fand er ein winziges Boot, das nicht gerade sehr seetüchtig aussah. Rath band es los und sprang hinein. Erst als er auf die Schiffe zuruderte, wurde ihm klar, dass er keine Ahnung hatte, welches von ihnen Maura und Delyon zum Festland bringen würde. Es musste ein kleines Schiff sein – eines, das nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich zog, wenn es vor der Küste gesehen wurde.
“He da!”, brüllte er einem jungen Seemann an Deck des kleinsten Kahns zu. “Ist dies …”
Er zögerte. Was sollte er sagen? Ist dies das Schiff, das die Auserkorene Königin in geheimer Mission zum Festland bringt? Wohl kaum, denn das war ein Geheimnis, von dem nur der Rat der Weisen wusste.
“Ist dies was?”, rief der Bursche zurück.
“Ist dies ein Schiff, das mit dem Rest der Flotte segelt?”
Der Bursche nickte kurz. “Ich denke, das tun wir alle. Außer dem einen da, das gerade Segel setzt. Weiß nicht, wohin das fährt.”
Rath wusste es.
“Dort fährt es.” Der Bursche deutete nach Westen.
Obwohl er wusste, dass er keine Chance hatte, rechtzeitig nahe genug heranzukommen, um ein Signal zu geben, ruderte Rath weiter an den Schiffen der Flotte vorbei, bis er offenes Wasser erreichte. Dort traf er auf Idrygon, der in seinem Lastkahn zum Ufer zurückgebracht wurde. In der Ferne blähten sich die Segel von Mauras Schiff im Wind.
Und trugen sie von ihm fort. Vielleicht für immer.
12. KAPITEL
D urch einen Tränenschleier blickte Maura auf die Küste von Margyle zurück. Nach etlichen Tagen zunehmender Entfremdung zwischen ihr und Rath war sie aufgebrochen, obwohl so vieles zwischen ihnen ungelöst war. Sie hatte sich nicht einmal von ihm verabschiedet.
Sie hörte zwar keine Schritte auf Deck, spürte aber die warme, aufmerksame Gegenwart eines anderen neben sich. “Es tut mir leid, dass wir so plötzlich abfahren mussten”, sagte Delyon, “ohne Euch die Gelegenheit zu geben, Seine Hoheit noch einmal zu sehen.”
Maura nahm seine Worte mit einem Nicken zur Kenntnis und hielt ihr Gesicht leicht abgewandt.
“Sorgt Euch nicht. Bevor Ihr es recht bemerkt, werdet Ihr wieder beisammen sein.”
Maura konnte kaum dem Bedürfnis widerstehen, ihn über Bord zu werfen.
Sorgt Euch nicht?
Nur jemand, der nie wirklich geliebt hatte, konnte so etwas Herzloses sagen! Und wie konnte er sich so sicher sein, dass sie bald wieder mit Rath vereint war? In den kommenden Tagen würden sie vielen Gefahren begegnen. Es gab keine Garantie dafür, dass sie beide – oder auch nur einer von ihnen – diesen Krieg zur Befreiung ihres Königreichs überleben würde. Keine der alten Legenden erzählte, was aus dem Wartenden König und seiner Auserwählten Königin werden würde.
Delyon ignorierte ihr eisernes Schweigen und plauderte munter weiter. “Ich gehe und lese noch ein wenig. Ich mache Fortschritte im Entziffern der Schriftrolle, die ich Euch heute Morgen zeigte.”
Seine Worte ließen Maura ihre Sorgen einen Augenblick lang vergessen. “Ihr habt alte, heilige Schriftrollen mit Euch genommen? Seid Ihr verrückt geworden?”
“Nur eine.” Delyon schrak vor ihrem Zorn zurück. “Und es ist kein Original. Ein wenig Verstand könntet Ihr mir schon zutrauen.”
“Ich bitte um Verzeihung, Delyon. Ich wollte Euch nicht so anfahren.” Er war einfach der Nächste gewesen, bei dem sie ihren Gefühlen hatte Luft machen können. Das hieß aber nicht, dass sie schlecht von ihm dachte.
Dadurch war sie plötzlich in der Lage, Raths Benehmen in der letzten Zeit in neuem Licht zu sehen, und mehr denn je wünschte sie, sie könnte Captain Gull den Befehl geben, die Phantom zu wenden und nach Margyle zurückzusegeln. Doch in diesem Fall würde sie sich nie mehr dazu aufraffen können, noch einmal fortzufahren.
“Nicht schlimm”, sagte Delyon. “Ich weiß, dass die meisten meine Leidenschaft für alte Schriftrollen für verrückt halten. Doch meine Arbeit hat sich als nützlich erwiesen und ich hoffe, sie tut es wieder.”
“Tatsächlich?”
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