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Das Orakel von Port-nicolas

Das Orakel von Port-nicolas

Titel: Das Orakel von Port-nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Neffe interessiere sich nur für das Mittelalter und für hoffnungslose Lieben. Er nannte ihn den heiligen Markus. Anscheinend war er auf seinem Gebiet sehr gut. Aber das konnte ja auch anderswo zu Ergebnissen führen, warum nicht? Louis hatte vor drei Tagen erfahren, daß Delacroix mutmaßlich der Sohn Talleyrands war, und diese Verbindung hatte ihm Vergnügen bereitet. Genie um Genie, Malerei oder Politik, Unvereinbares konnte sich verknüpfen.
    »Und?« fragte Louis.
    »Wo ist das gefunden worden?«
    »In Paris, auf dem Baumgitter von Bank 102 auf der Place de la Contrescarpe. Was denkst du?«
    »Auf den ersten Blick würde ich sagen, es ist ein Knochen, der aus einem Haufen Hundescheiße kommt.«
    Kehlweiler richtete sich auf und sah Marc an. Ja, dieser Typ interessierte ihn.
    »Nein?« fragte Marc. »Täusch ich mich?«
    »Du täuschst dich nicht. Woher weißt du das? Hast du einen Hund?«
    »Nein, ich habe einen Jäger und Sammler aus dem Paläolithikum. Er ist Prähistoriker und sehr darauf fixiert, man darf ihn mit dem Thema nicht nerven. Aber auch wenn er Prähistoriker ist und sehr fixiert, ist er ein Freund. Ich hab mich für seine Funde interessiert, denn im Grunde ist er sehr sensibel, ich will ihm nicht weh tun.«
    »Ist das der, den dein Onkel den heiligen Lukas nennt?«
    »Nein, das ist Lucien, er ist Historiker des Ersten Weltkriegs, sehr darauf fixiert. Wir sind drei in der Baracke, Mathias, Lucien und ich. Und Vandoosler der Ältere, der uns hartnäckig heiliger Matthäus, heiliger Lukas und heiliger Markus nennt, so daß man annehmen könnte, wir hätten eine Macke. Es fehlte nicht viel, und der Alte würde sich Gott nennen. Na ja, das sind die Dummheiten meines Onkels. Die von Mathias, dem Prähistoriker, sind andere. In den Abfällen aus seinen Grabungen waren so Knochen wie der da, mit lauter kleinen Löchern. Mathias sagt, das Komme von der Scheiße der prähistorischen Hyänen, man solle es bloß nicht mit der Nahrung der Jäger und Sammler verwechseln. Er hatte das alles auf dem Küchentisch ausgebreitet, bis Lucien sich aufgeregt hat, weil es mit seiner eigenen Nahrung durcheinanderkam, und Lucien liebt Essen. Na ja, die Baracke braucht dich nicht zu interessieren, aber da es auf den Baumgittern von Paris keine prähistorischen Hyänen gibt, denke ich, daß es von einem Hund stammen muß.«
    Kehlweiler nickte. Er lächelte.
    »Nur …«, fuhr Marc fort, »was weiter? Hunde nagen Knochen, das liegt in ihrer Natur, und dann kommt’s in diesem porösen, durchlöcherten Zustand wieder heraus. Es sei denn …«, fügte er nach kurzem Schweigen hinzu.
    »Es sei denn«, wiederholte Kehlweiler. »Denn der da ist ein menschlicher Knochen, das letzte Glied von einem Zeh.«
    »Sicher?«
    »Sicher. Ich habe es im Naturkundemuseum von einem Mann bestätigen lassen, der sich auskennt. Der Zeh einer recht alten Frau.«
    »Ja dann, natürlich …«, sagte Marc nach neuerlichem Schweigen. »So was ist nicht gewöhnlich.«
    »Das hat die Bullen nicht weiter irritiert. Der Kommissar des Viertels will nichts davon wissen, daß es sich um einen Knochen handelt, er hat so was noch nie gesehen. Ich gebe zu, daß das Stück in einem ungewöhnlichen Zustand ist und daß ich ihn in den Irrtum getrieben habe. Er vermutet, daß ich ihm eine Falle stelle, was stimmt, aber es ist nicht die, die er glaubt. Im Viertel ist niemand verschwunden, sie werden also wegen einem in Hundedreck verpackten Knochen keine Ermittlungen aufnehmen.«
    »Und was denkst du darüber?«
    Marc duzte jeden, der ihn duzte. Kehlweiler streckte seine langen Beine aus und verschränkte die Hände im Nacken.
    »Ich denke, daß dieser Zehenknochen zu jemandem gehört, und ich bin mir nicht sicher, ob die Person am Ende des Knochens noch lebt. Ich lasse die Möglichkeit eines Unfalls beiseite, zu unwahrscheinlich. Es gibt die absurdesten Zufälle, aber so was dann doch nicht. Ich denke, daß der Hund sich mit größerer Sicherheit über eine Leiche hergemacht hat. Hunde sind Aasfresser, genau wie deine Hyänen. Lassen wir den Fall einer legalen Leiche, irgendwo in einem Haus oder einem Krankenhaus, beiseite. Es wäre unsinnig, sich das Eindringen des Hundes in die Leichenkammer vorzustellen.«
    »Und wenn eine Alte allein mit ihrem Hund in ihrem Schlafzimmer gestorben ist?«
    »Und wie soll der Hund da rausgekommen sein? Nein, unmöglich, die Leiche befindet sich draußen. Ein irgendwo vergessener oder irgendwo ermordeter Körper, Keller, Baustelle,

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