Das Orakel von Port-nicolas
Donnerstag abend umgebracht, sie auf den Strand hinuntergetragen, und dabei ist ihr der zu große Stiefel vom Fuß gefallen. Der Mörder hat seine Arbeit auf den Felsen beendet und ist wieder hinauf, um den fehlenden Stiefel zu suchen. Diese Zeit hat dem Hund ausgereicht, um an dem unbeschuhten Fuß einen Zeh abzureißen. In der hereinbrechenden Nacht hat der Mörder nichts davon gemerkt, er hat ihr den Schuh wieder übergestreift, und dann sind drei Nächte vergangen, bevor man Marie gefunden hat.«
»Wie können Sie das alles behaupten?« fragte Sevran. »Gibt es Zeugen?«
Er hielt Lina noch immer an den Schultern. Niemand dachte mehr ans Essen.
»Keinerlei Zeugen. Wir haben Ihren Hund.«
»Mein Hund! Wieso er? Er ist schließlich nicht der einzige, der herumstreunt, verdammt!«
»Er ist der einzige, der am Donnerstag abend, vor ein Uhr morgens, auf der Place de la Contrescarpe in Paris in seinen Exkrementen den Zehenknochen von Marie ausgeschieden hat.«
»Ich verstehe nichts«, sagte Sevran. »Nichts!«
»Ich habe diesen Knochen gefunden, ich habe seine Spur bis hierher verfolgt. Tut mir leid, aber es ist Ihr Hund. Im vorliegenden Fall war er von Nutzen. Ohne ihn hätte man nie einen Mord vermutet.«
Da schrie Lina plötzlich auf, entwand sich den Händen ihres Mannes und rannte aus dem Raum. Nebenan entstand großer Lärm, und Sevran stürzte hinaus.
»Schnell!« rief er ihnen zu. »Schnell! Sie hat Marie vergöttert!«
Fünfzehn Sekunden später hatten sie Lina erreicht. Sie stand in dem großen Hof, dem knurrenden Pitbull gegenüber. Sie hielt einen Karabiner in der Hand, trat zurück, legte an, zielte.
»Lina! Nein!« brüllte Sevran und rannte zu ihr.
Aber Lina drehte sich nicht einmal um. Mit zusammengebissenen Zähnen gab sie zwei Schüsse ab, der Hund sprang auf und fiel blutend zu Boden. Wortlos und mit zitterndem Unterkiefer warf sie die Waffe auf die Leiche des Tieres und ging, ohne einen Blick für die drei Männer, die um sie herumstanden, zurück ins Haus.
Louis war ihr gefolgt und hatte Marc bei Sevran gelassen. Sie hatte sich wieder an ihren Platz vor ihrem vollen Teller gesetzt. Ihre Hände zitterten, und ihr Gesicht war so angespannt, daß sie überhaupt nicht mehr schön wirkte. In diesem Augenblick lag eine solche Härte über ihren Zügen, daß alles Zittern ihres Körpers niemanden zu rühren vermocht hätte. Louis schenkte ihr Wein ein, schob das Glas zu ihr, hielt ihr eine angezündete Zigarette hin, und sie nahm beides. Sie sah ihn an, atmete tief ein, und Sanftheit kehrte auf ihr Gesicht zurück.
»Dieses widerliche Vieh hat bezahlt«, sagte sie, während sie zwischen den Worten durchatmete. »Ich wußte doch, daß er uns eines Tages übel mitspielen würde, mir oder den Kindern.«
Marc kam in den Raum zurück.
»Was macht er?« fragte Louis.
»Er begräbt den Hund.«
»Gut gemacht«, sagte Lina. »Gut gemacht, eine wahre Erlösung. Ich habe Marie gerächt.«
»Nein.«
»Ich weiß, ich bin nicht blöd. Aber ich hätte keine Minute länger mit diesem widerlichen Vieh verbracht.«
Sie sah sie nacheinander an.
»Was? Das schockiert Sie? Wollen Sie diesem widerlichen Hund jetzt nachweinen? Ich habe allen einen Dienst erwiesen, indem ich ihn abgeknallt habe.«
»Sie sind kaltblütig«, sagte Louis. »Sie haben ihn nicht verfehlt.«
»Um so besser. Aber es ist nicht kaltblütig, einen Hund abzuknallen, der Ihnen Angst einjagt. Und dieses Vieh hat mir immer Angst eingejagt. Als Martin kleiner war – Martin ist mein Sohn – ist der Hund ihm ins Gesicht gesprungen. Er hat noch immer die Narbe am Kinn. Na? Ein hübscher Hund, nicht wahr? Ich habe Lionel angefleht, daß er ihn uns vom Halse schafft. Aber nein, er wollte nichts davon wissen, er hat versprochen, den Hund abzurichten, er hat gesagt, er würde schon älter werden, und außerdem hätte Martin ihn geärgert. Es ist nie die Schuld des Hundes, immer die Schuld der anderen.«
»Warum hat Ihr Mann Ringo behalten?«
»Warum? Weil er ihn gefunden hat, als er noch klein war und halb tot in einem Graben lag. Er hat ihn mitgenommen, hat ihn gepflegt und der Hund ist wieder gesund geworden. Lionel ist fähig, sich von einer alten, verrosteten Schreibmaschine anrühren zu lassen, wenn sie wieder in Gang kommt; Sie können sich vorstellen, was passiert ist, als sich das Hundchen in seine Arme geflüchtet hat. Er hatte schon immer Hunde. Ich hatte nicht den Mut, ihn ihm wegzunehmen. Aber das jetzt, mit meiner Marie, nein,
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