Das Orakel von Port-nicolas
Windungen der Verfasser anonymer Briefe, an ihre krummen Beweggründe, an ihre sich windenden, unlogischen Mittel … Habgier, Feigheit, Gewalt, Schwäche … Genau wie vor gerade mal sechs Jahren in Pont-1’Abbé. Aber die Beschuldigung kann stimmen.«
»Die Vauban-Hütte ist ein sehr geeigneter Ort für ein Paar. Ein Dach, und außerdem noch weit entfernt von allem. Das Risiko, dort gesehen zu werden, ist minimal.«
»Selbst wenn man weiß, daß Marie Lacasta zum Schneckensammeln immer auf diesen Strand kam?«
»Sie hätte die Hütte sicherlich nicht betreten, eine Frage des guten Rufs. Solche alten Steinhütten betritt man nur, um zu pinkeln oder um sich zu treffen, jeder weiß das, und zwar seit gerade mal viertausend Jahren in der ganzen Welt. Aber an diesem Donnerstag hat Marie vielleicht ausnahmsweise einen Blick hineingeworfen. Und so hat sich das Räderwerk in Bewegung gesetzt.«
»Und der Verfasser des Zettels? War der auch da?«
»Das wären ziemlich viele Leute für einen Tatort, ich glaube nicht an derlei Zufälle. Aber womöglich hat er gewußt, daß sich ein Paar in der Hütte traf. Er erfährt von dem Mord, sieht den Zusammenhang und legt ihn uns nahe. Er redet nicht, weil er Angst hat. Sie haben es ja gelesen: ›Alle halten die Klappe‹. Entweder dramatisiert der Verfasser, oder der eine von dem Paar ist eine bedrohliche oder auch nur einflußreiche Person, die nicht gestört werden darf, also halten alle die Klappe.«
»Warum wendet er sich an Sie?«
»Meine Jacke war leicht zugänglich, und ich bin ein guter Draht zu Ihnen.«
»Ein Paar …«, murmelte Guerrec erneut. »Ein Paar … was für eine Information … Das ist doch das Gängigste auf Erden. Die Hütte zu überwachen würde nichts bringen, sie werden nicht dorthin zurückkehren. Die Leute zu befragen würde nur grenzenlose Verwirrung auslösen und auch nichts Neues bringen. Was wir brauchten, wäre der Verfasser des Briefchens. Die Fingerabdrücke, wir müssen die Fingerabdrücke sehen …«
»Er ist das Risiko nicht eingegangen, welche zu hinterlassen. Deshalb hat er, oder sie, das Papier zusammengeknüllt.«
»Ja?«
»Er hat im Café keine Handschuhe anbehalten können, ohne aufzufallen. Um das Ding in meine Jacke zu stecken, war es das Einfachste, die Botschaft zu einer Kugel zu knüllen, sie mit geschlossener Hand in einem Taschentuch zu halten und sie in meine Tasche fallen zu lassen. Das Papier ist klein, es ist ganz leicht, es in der geschlossenen Hand zu halten und den Arm nah am Körper baumeln zu lassen.«
»Er hat gesehen, wie Sie die 7 verfehlt haben, dann ist er rausgegangen … Wann war das mit der 7?«
»Ganz am Ende meiner Partie mit Sevran, kurz vor fünf.«
»Dann kommt er zurück, mit dem vorbereiteten Briefchen und baumelndem Arm. Wen haben Sie zu der Zeit kommen oder gehen sehen?«
»Unmöglich, Ihnen zu sagen, wer gekommen oder gegangen ist. Ich habe auf mein Spiel mit Lefloch geachtet und kenne die Leute von hier noch nicht gut genug. Es waren nicht gerade wenig Menschen an der Bar und um den Spieltisch. Man hat auf Sie gewartet. Die Leute gingen raus, gingen umher, kamen rein.«
»Bleiben noch die Typen der Schreibmaschine.«
»Dafür haben Sie ja einen Fachmann im Ort, man braucht sich seiner nur zu bedienen.«
24
Sevran hatte sich ein paar Minuten auf das Briefchen konzentriert, das der Leutnant mittels zweier Pinzetten vor ihm auseinandergefaltet hatte. Er wirkte verwirrt und aufmerksam, man hätte meinen können, er versuchte, ein flüchtig gesehenes Gesicht auf einem Foto zu identifizieren.
»Ich kenne sie«, sagte er schließlich leise, »ja, ich kenne sie. Es ist ein langsamer, matter, sanfter Anschlag. Wenn ich mich nicht irre, ist die Maschine sogar bei mir. Kommen Sie.«
Die beiden Männer betraten hinter ihm den Raum mit den Maschinen, ein weitläufiger Raum, in dem auf Tischen und Regalen gut zweihundert schwarze Geräte von überraschenden Formen aufgereiht standen. Sevran schlängelte sich ohne zu zögern zwischen den Tischen hindurch und setzte sich vor eine schwarzgoldene Maschine mit Buchstabenblatt.
»Ziehen Sie die hier an und tippen Sie vorsichtig«, sagte Guerrec und hielt ihm ein paar Handschuhe hin.
Sevran nickte, zog die Handschuhe an, nahm ein Blatt Papier und spannte es ein.
»Die hier«, sagte er, »die Geniatus 1920. Wie lautet der Text genau, den ich tippen soll?«
»Es gab da ein Paar, Absatz, in der Hütte Vauban, Absatz, aber alle halten die Klappe«,
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