Das Orakel von Port-nicolas
rezitierte Guerrec.
Sevran tippte die ersten Worte, zog das Blatt aus der Maschine und sah es sich prüfend an.
»Nein«, sagte er und verzog das Gesicht, »das ist es fast, aber das ist es nicht.«
Plötzlich stand er, unzufrieden über seinen Mißerfolg, auf, lief um weitere Holztische herum und nahm vor einer kleinen länglichen Maschine Platz, deren Funktionsweise man sich nicht leicht vorstellen konnte.
Sevran tippte erneut den Anfang der Nachricht, nicht auf einer Tastatur, sondern indem er eine Scheibe bis zum gewünschten Buchstaben drehte. Er schrieb, ohne die Metallscheibe auch nur anzusehen, da er die Position eines jeden Buchstabens auswendig kannte. Er zog das Blatt heraus und lächelte.
»Jetzt haben wir’s. Es stammt von der hier, der Virotyp 1914. Zeigen Sie mir das Original, Inspektor.«
Der Ingenieur hielt die beiden Blätter nebeneinander.
»Das ist die Virotyp, kein Zweifel. Sehen Sie?«
»Ja«, erwiderte Guerrec. »Tippen Sie jetzt den ganzen Text, damit wir ihn im Labor überprüfen können.«
Während Sevran erneut die Scheibe der Virotyp betätigte, besah sich Guerrec den großen Raum. Der Tisch mit der Virotyp war der nächste zur Tür, zugleich lag er im Schutz der Fenster. Sevran kam und gab ihm das zweite Exemplar.
»Könnten Sie dieses Mal Ihre Fingerabdrücke draufmachen?« fragte Guerrec. »Sehen Sie darin keine Kränkung.«
»Ich verstehe«, sagte Sevran, »es ist mein Haus, meine Maschine, ich stehe sozusagen an vorderster Stelle.«
Er streifte seine Handschuhe ab und nahm das Papier mit beiden Händen, indem er die Finger draufdrückte, bevor er es erneut dem Inspektor zurückgab.
»Kehlweiler, bleiben Sie hier, ich rufe meinen Stellvertreter, um die Abdrücke aufzunehmen.«
Mit zugleich bekümmertem wie neugierigem Gesicht blieb Sevran bei Louis zurück.
»Kommt man hier leicht rein?« fragte Louis.
»Tagsüber ja, über die Gartenmauer zum Beispiel. Nachts oder wenn wir weg sind, machen wir den Alarm an. Ich muß Ihnen sagen, daß ich heute nachmittag, nachdem ich Ringo begraben habe, Lina zur Zerstreuung ins Café gebracht und nicht daran gedacht habe, die Anlage einzuschalten, ich hatte anderes im Kopf. Im Grunde vergessen wir es oft.«
»Haben Sie keine Angst um Ihre Maschinen?«
Sevran zuckte mit den Schultern.
»Die sind unverkäuflich, wenn man nicht zur Szene gehört. Man muß Käufer finden, Sammler und Netzwerke kennen, Adressen haben …«
»Wieviel ist so was wert?«
»Das hängt vom Modell ab, von seiner Seltenheit, davon, ob es funktionstüchtig ist. Die da zum Beispiel fünfhundert Francs, aber für die dort kann ich fünfundzwanzigtausend kriegen. Wer könnte das wissen? Wer könnte die richtige herausfinden? Es gibt Maschinen, die nach nichts aussehen und sehr begehrt sind. Die da hinten mit dem umgedrehten Zeilenschalthebel, sehen Sie die? Das ist das erste Modell einer Remington 1874, und sie ist mit dem unpraktischen Hebel bis zum heutigen Tag ein Unikat. Remington hat sie, kurz nachdem sie herausgekommen sind, alle zurückgenommen, um den Hebel bei allen Käufern kostenlos umzudrehen. Aber dieses eine Modell war von Amerika nach Frankreich gelangt, und Remington ist ihm nicht hinterhergerannt, um den Hebel auszutauschen. Die Maschine ist also praktisch einzigartig. Wer kann so was wissen? Ein Sammler, ja, o.k. aber selbst der müßte ein ziemlich beschlagener Kerl sein. Und in diesem Milieu sind wir nicht viele, niemand würde es wagen, sie mir zu klauen, das würde sich sofort herumsprechen, damit wäre man auf dem Markt erledigt, anders gesagt, reiner Selbstmord. Also, sehen Sie, das ist nicht sehr riskant. Außerdem habe ich jede Maschine mit Metallfüßen auf ihrem Sockel befestigt. Man braucht Werkzeug und Zeit, um alles abzumontieren. Abgesehen davon, daß mein Keller vorgestern abend aufgebrochen wurde, habe ich nie Ärger gehabt, und selbst da ist nichts weggekommen.«
Der Stellvertreter trat ein, und Guerrec zeigte ihm die Virotyp, die Tür, die Fenster.
Dann dankte er dem Ingenieur kurz, bevor sie gingen.
»Ich glaube nicht, daß man andere Fingerabdrücke finden wird als die von Sevran«, meinte Guerrec, als er mit Kehlweiler zum Rathaus zurückging. »Sicher, jeder x-beliebige hat herkommen können, um das Briefchen zu tippen, aber Sevran ist gleichwohl in einer ziemlich heiklen Situation. Und doch glaube ich nicht, daß er sich für heimliche Paare interessiert. Ich verstehe auch nicht, was für ein Interesse er gehabt haben
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