Das Paradies
und auf die Erwachsenen hört, wer fleißig und nett ist, der wird auch geliebt. Aber es gibt eine Menge Kinder, die ihre Würde erst einmal durch Wut erhalten, eine Wut, wegen der wir hier waren. In der Klapse. Aus irgendeinem Grund war ich freiwillig geblieben. Vielleicht, weil ich nicht in die Schule musste. Jedenfalls bis zu dem Moment, als ich aus dem Schwesternzimmer die Geschichte von Markus Wolf gehört hatte, der sich ein Hörgerät kaufen wollte. Markus Wolf sagte mir was. Mein Vater hatte manchmal von ihm gesprochen, mit Bewunderung. Er sagte, er wäre gern in der Auslandsaufklärung gewesen. Ich ging in das Schwesternzimmer und sagte: »Markus Wolf ist doch cool.« Eine Schwester, die gerade von einem Hackbrötchen abbiss, schob das Stück in ihrem Mund unzerkaut in die linke Backe und sagte: »Wat?«
»Über den weiß ich ungefähr alles. Also, der war Spion!«
»Woher hast du das denn?«
»Sag ich nicht.«
»Setz dich mal hin.«
Ich setzte mich auf einen Stuhl, der mir etwas zu breit und zu weich erschien.
»Er hat sein Land verteidigt.«
|175| »Wer hat dir das denn erzählt?«
»Mein Papa.«
Am nächsten Tag war ich zu Hause. Mein Vater guckte die Spionagefilme dann nicht mehr mit uns zusammen. In einem dieser Spionagefilme hatte Armin Müller-Stahl die Hauptrolle. Er hat auch ein Buch geschrieben, das ich nicht gelesen habe. Aber ich weiß, worum es geht in dem Buch: Jeder über 40 könne seine Autobiographie schreiben oder einen Film aus seinem Leben machen. Jeder über 40? Im Osten jeder über zehn.
Ich muss mich an all das erinnern, als am Ende des Waldes die Klinik auftaucht. Ich bin auf dem Weg zu meiner Freundin. Der Freundin, die den Mülleimer des Theaterklos angezündet hat. Warum? Weil man manchmal in Stimmung ist, weil sich jeder schon einmal so etwas vorgestellt hat, einem unfreundlichen Bankbeamten eine runterzuhauen zum Beispiel oder einen Radfahrer vom Rad zu zerren, der einen beinahe über den Haufen gefahren hat. Man macht es nur nicht. Und das ist ja auch irgendwie gut, gut und traurig zugleich.
Sie sitzt auf ihrem Bett, ich erzähle ihr von den reichen DDR-Bauern und dem armen niedersächsischen Prinzen. Draußen im Flur fährt eine Frau auf einem Kinderroller auf und ab. Meine Freundin lacht: »Das interessiert mich eigentlich einen Scheiß. Aber trotzdem krass.«
»Wir müssen was aus unserem Leben machen«, sage ich.
»Das sagst du, seit ich dich kenne. Streberin.«
»Sicher.«
»Ich will ein Drehbuch schreiben.«
»Worum geht’s?«
»Weiß noch nicht. Titel:
Zukunft
.«
|176| »Hm. Klingt gut.«
Ich habe das Gefühl, wir kennen mehr Psychotherapeuten als Frisöre. Die zweite Psychologin hat einmal während der Therapiesitzung mit ihrer Tochter telefoniert, weil diese Gas im Haus roch. Der dritte hatte eine Katze und ein Motorrad. Der vierte hatte verbrannte Hände, er hatte einen brennenden Weihnachtsbaum aus dem Fenster geworfen und so seine Familie gerettet. Dem fünften schulde ich noch Geld. Weil sich alles wiederholt, hab ich das Therapieren jetzt aufgegeben. Bei mir hat es mit sechs Jahren angefangen. Frau Tümmler gab mir die Hand und zeigte mir das Puppenhaus, mit dem ich von da an jede Woche spielen durfte. Meine Eltern saßen mit ihr am Tisch und erzählten. Die Wende. Die ganze Unsicherheit. Andrea hat Alpträume und eine Drei in Deutsch und in Mathe. Damit wird sie doch nichts. Sie soll aufs Gymnasium. Mein Vater nahm sich kurz zuvor auch eine Therapeutin, hatte aber erfahren, dass er, wenn er verbeamtet wird, sich privat versichern muss. Private Versicherungen nehmen niemanden, der innerhalb der letzten fünf Jahre eine Psychotherapie gemacht hat. Er brach sofort ab. Unterhielt sich stattdessen in meinen Sitzungen mit Frau Tümmler. Mir kam das sehr entgegen, denn was sollte ich der Frau schon erzählen. Es gab nichts zu erzählen. An Alpträume konnte ich mich jedenfalls nicht erinnern. Frau Tümmler hat mich gefragt, ob ich:
– lüge
– weiß, was Sex ist
– meine Eltern hasse
– einen Fantasiefreund habe
Ich habe gleich nein gesagt, zu allem. »Du lügst nicht?«
»Na ja, doch, aber die Wahrheit glaubt einem ja keiner.« Okay.
|177| Wir schweigen jetzt. Ich setze mich in den großen Ohrensessel, nehme einen Prospekt von dem runden Beistelltisch. »Darf ich meinen eigenen Urin trinken?« steht darauf. Ich lege ihn schnell wieder weg. Es entsteht eine beklemmende Stille. Eigentlich gehören Prospekte ja auch zur
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