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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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konnten kein Deutsch, und in der Psychiatrie gibt es herzlich wenig zu sagen. Wir haben uns dann zusammengetan. Ich habe ihnen gezeigt, wie man seine Familie in einen Panzer hineinmalt. Etwas später wurde eine Dolmetscherin geholt. Sie sprachen trotzdem nicht, aber nach vier Wochen konnte man wenigstens mit ihnen Federball spielen. Wir wurden am gleichen Tag entlassen. Sie in ein Kinderheim. Ich nicht.
    »Wir haben sie auf einer Parkbank schlafend gefunden«, hat der von der Polizei gesagt, als das Mädchen eingeliefert wurde, die fünf Paracetamol genommen hatte. Einlieferungen fand ich besonders spannend. Sie war schon nach zwei Tagen wieder fit genug, um das ganze Zimmer auseinanderzunehmen. Sie schlug die Schwestern so heftig, dass man sie auf ihrem Bett fixieren musste. Neugierig guckten der bosnische Junge Alija und ich durch die Scheibe der Zimmertür. Ich wusste nicht, ob ich empört oder beeindruckt war. Alija |172| war sichtlich beeindruckt, denn er stand neben mir und sagte zum ersten Mal etwas. Das Erste, was er in Deutschland sagte, war: »Wow.«
    Es war Sommer, und Dr. Siglinde Seitz hatte sich ihren Schreibtisch in den verwilderten Innenhof des Krankenhauses gestellt. Wir beobachteten sie immer von weitem. Ich ging einmal zu ihr hin und setzte mich neben sie ins Gras. Sie war schon alt. Vielleicht 60 oder so, graue, kurze Haare, ein strenges Gesicht, liebevolle, kleine Augen. Irgendwie Maus und Adler in einem. Sie gab mir Papierbögen mit Aufgaben drauf, ich solle mir Zeit lassen, bekam einen Sonnenstich, hatte nach 25 Minuten alle gelöst. Sie fragte mich, ob ich gern in ein Internat gehen wolle. Ich sagte ja. Es kam leider nie dazu. Denn Internate kosten Geld. Wieso soll jemand in ein Internat?, fragten meine Eltern. Schulen gibt es hier genug. Normale Schulen. Für normale Leute. Ein Internat, das ist snobistisch. Und teuer.
    Die Tür des Schwesternzimmers ist immer geöffnet, man kommt nie ungesehen an den weißen Ladys vorbei. Über den gelben Flur hören wir immer ihre Stimmen bis in unsere kleinen Zimmer. Es sind beruhigende Stimmen und gute Geschichten, die wir da zu hören bekommen. Am Nachmittag: »Meine Schwägerin hat ein Hörgerätegeschäft in Berlin. Pankow. Da kommt eines Tages Markus Wolf rein und sagt: ›Ich brauche ein Hörgerät …‹ Na, da lag der aber einiges als Antwort auf der Zunge.« Lachen. Eine Weile.
    Mein Zimmer teile ich mit Martin. Er ist blind, spielt sehr gut Schach, mit einem speziellen Schachbrett, wo hinein die Figuren gesteckt werden können, so dass er die Figuren mit der Handfläche abtasten kann, ohne dass sie verrutschen. Er ist ein unerträglicher Schlaumeier, behauptet, im Sommer |173| heiße Getränke trinken zu müssen, weil die die Wärme besser aus dem Körper ableiten, solche Sachen. Und er ist cholerisch. Wenn er zum Beispiel glaubt, dass ihn jemand bei Schach verscheißert, wirft er den Tisch um, dann den Stuhl, dann die Schwester und dann wird er fixiert.
    Ich erinnere mich, dass ihm etwas später eine Etage über der Psychiatrie Knochenmark entnommen wurde und wie er dann in einem Krankenhausbett wieder zu uns hereingerollt wurde. Wir mussten das Zimmer verlassen. Er brauche Ruhe. Er stöhnte, hatte offenbar Schmerzen. In seinem Arm steckte der Tropf. Zwei Tage später ging ich mal unbeobachtet zu ihm rein. »Und wie geht’s?«
    »Toll.«
    »Schach?«
    »Willst du mich verarschen?«
    »Blödmann.«
    »Was hast du gesagt?«
    »Nichts.«
    »Fick dich ins Knie.«
    »Fick dich selber.«
    »Mir reicht’s.«
    Er zieht den Tropf aus dem Arm.
    »Ich hau aus dem Scheißladen ab.«
    Er versucht aufzustehen. Er kann nicht aufstehen.
    »Scheiße.«
    »Ich bin immer zu krank.«
    »Ich bin immer zu gesund.«
     
    Es war der Moment, in dem ich verstand, dass das alles sehr ungerecht ist, dass jeder cholerisch wäre, wäre er blind und ans Bett gefesselt und 13 Jahre alt. Dass es ungerecht ist, wenn |174| die Schwestern ihn deshalb nicht mögen, und dass ich noch wütender werden würde, wenn ständig Leute um mich wären, die sehen können und die sehen, wie ich die Beherrschung verliere. Dass ich die Ohnmacht nicht kenne, das Gefühl zu wissen, dass man nicht mal abhauen kann. Ich bin eigentlich ein Glückspilz. Ich kann sehen. Ich bin nicht unmittelbar von einer Katastrophe bedroht. Ich habe mich sogar wohl gefühlt hier und keine Wut mehr. Nur draußen. Vielleicht bin ich nur aus Eitelkeit nicht verrückt geworden.
    Wir haben immer gelernt, wer brav ist

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