Das Paradies
und das erinnert mich an einen Besuch in Frankfurt am Main, wo sie auf einer öffentlichen Toilette nach einem Handtuch suchte, um sich die Hände zu trocknen. Sie kam entgeistert aus der Toilette und klopfte meinem Vater auf die Schulter: »Die trocknen sich hier die Hände mit Papier ab!«
|10| Jedenfalls biegen wir so um die Ecke und da geht mein Puls unheimlich hoch, weil vor uns die Süßigkeitenabteilung erscheint, sie leuchtet und blinkt und ist bunter als alles, was ich bisher gesehen habe. Dann hält mich meine Mutter fest, und ich merke, dass mir der Mund aufsteht, und ich sehe andere Mütter, die andere Kinder festhalten, und manche ziehen etwas aus dem Regal und rennen zum Einkaufswagen und schmeißen es rein, und als meine Mutter eine Packung Kaugummi nimmt und liest, was da so drin ist, packe auch ich alles, was ich greifen kann, in den Wagen: Milka-Schokolade, Kinderschokolade, Überraschungseier, Gummi-Colaflaschen, Gummibärchen, Toffifee, Mohrenköpfe, Liebesperlen, Zuckerstangen, Hanuta und weiße Mäuse. »Weiße Mäuse? Mama! Bitte!« Und meine Mutter dreht sich um, beobachtet mich und sagt dann: »Kannst du gleich wieder alles schön aus dem Wagen zurück ins Regal bringen.«
Mir laufen die Tränen übers Gesicht. »Wozu gibt’s denn dann Süßigkeiten?«
»Früher brauchten wir nicht ständig Süßigkeiten. Oder hast du heute etwa Geburtstag?«
»Nein.«
»Ist Weihnachten?«
»Nein.«
»Na dann.«
»Scheiß DDR.«
»Fräulein.«
Etwas ratlos und verwirrt bummeln wir Richtung Kühlbereich. Überall hängen Plakate mit lachenden, jungen Familien drauf. »Hier gibt’s mehr Werbung als je für den Sozialismus«, sagt meine Mutter. In meinem Kopf entsteht das |11| Bild eines gewissen Dings namens Sozialismus, er ist klein, bucklig und schlecht gelaunt und hat große, weiße Zähne. Ich weiß nicht, warum, etwas von Zahnarzt muss ich da mitdenken. Das einzig Bekannte im Supermarkt sind die alten Fliesen. Wo sich die Gänge zwischen den Regalen kreuzen und man einen Nachbarn trifft, grüßt man, weiß aber nicht, welche Vorfahrtsregeln hier gelten. Rechts vor links. Bitte, nach Ihnen. Danke. Sehr höflich fahren wir alle schön hintereinander, eine Reihe. Einkaufen in Zeitlupe. An einem kleinen Stand bietet eine breit grinsende Dame in einem grauen Kostüm und mit glattgeföhnten, an der Schulter wie eine Schanze nach außen schwingenden blonden Haaren kleine Kuchen an: »Versuchen Sie mal den Helmut-Kohl-Gedenkkuchen, den man gleich mit der Verpackung essen kann.« Große Begeisterung in den Gesichtern. Um sie herum stehen ein paar Leute aus unserem Haus und kauen fleißig, während die Frau dahinter eifrig die braunen Klumpen zusammen mit der Verpackung in Scheiben schneidet und parallel zueinander vor sich aufbaut. Stefan Meyer winkt uns ran: »Hier! Kannst du kosten. Gar nich mal so schlecht. Denk ich mal.« – »Kosten« sprach er aus, als wäre es ein Wort aus edelsten Kreisen. Ich renne sofort hin und stecke mir ein paar Kuchenstücke in die Jackentasche. »Du hast aber ein schönes Indianerkostüm an. Bist du Winnetou?«, sagt die Frau zu mir und hält mir einen der braunen Klumpen ins Gesicht. Was für eine Frage, natürlich bin ich Winnetou. »Sie haben einen sehr hübschen Jungen«, sagt die Frau zu meiner Mutter und meine Mutter sagt danke.
Genau genommen fressen sich unsere Nachbarn und ich von da an fast täglich an den Probierständen im Supermarkt durch. Einmal gab es Weltraumnahrung, und man konnte |12| viele im Viertel sehen, wie sie an Weltraumeis, Sorte Fürst Pückler mit Waffel, knusperten: »Schmeckt och«, hieß es. Und das stimmt auch, Weltraumeis schmeckt genauso wie richtiges Eis, nur dass es eben warm war und trocken, und das war ja sinnlos, weil man Eis isst, damit einem kälter wird im Sommer, dachte ich.
Plötzlich stoppen die Männer ihr Kauen und meine Mutter den Einkaufswagen. Es wird ganz still. Nur einer muss von dem Kuchen kurz aufstoßen, dann hören alle auf ein Lied aus den Lautsprechern, das jeder zu kennen scheint, nur ich nicht. »Dass wir noch die Wärme spürten, die uns heute verloren scheint. Lalala. Nie, nie zuvor …« Ohne sich zu bewegen, hören alle unter dem Neonlicht das Lied von Electra. Mir kommt das sehr schön vor. Meine Mutter nimmt während des Songs eine große Packung eingefrorener junger Erbsen aus der Gefriertruhe, als ihr die Tränen kommen.
Silvio kommt mit weißem Kittel auf meine Mutter zugelaufen und sagt:
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