Das Paradies
die Zeit ohne Gesetze, ohne klare Regeln. Und da hat er mitgemacht, alles verkauft, was ging. Ich erinnere mich, wie wir über einen Markt gegangen sind, auf dem Vietnamesen Obst und Gemüse und T-Shirts von Landser und den ganzen Nazischeiß verkauft haben, was man sich ja auch mal vorstellen muss, dass die Neonazis bei den Vietnamesen ihr Naziequipment gekauft haben. Scheint so, als wäre es mit das beste Geschäft gewesen. Neonazizeug in Neonaziland.«
»Obwohl damals noch überhaupt niemand verstanden hat, was Landser oder was 88 bedeutet. Als sie in unserem Viertel mal das Horst-Wessel-Lied im Jugendzimmer gespielt haben, da ist man vorbeigelaufen und hat sich auch nichts weiter gedacht außer: Hä? Ich kannte das Lied jedenfalls nicht. Und niemand hat dazu etwas gesagt.«
»Was ist das Horst-Wessel-Lied?«
»Weiß ich im Grunde auch nicht. Irgendein Nazischeiß.«
Wir gehen ein Stück und schweigen. Schon wieder: Halbwissen mangels Erinnerung. Gehirn wie ein Sieb.
»Meine Mutter wusste von der Schmuggelaktion gar nichts«, sagt Jule. »Mein Vater ist nebenbei immer noch ins |181| Architekturbüro gegangen und hat normal gearbeitet, sporadisch jedenfalls. Meine Mutter hatte bis dahin alles hingenommen, die Wende, den Scheißjob, die Nachtschichten. Erst als sich meine Eltern 92 oder 93 haben scheiden lassen, da bekam ich Respekt vor ihr. Als sie das eisern durchgestanden hat. Sie hatte sich entschieden, es einfach hinzunehmen. Drei Kinder und alles. Und dann ist mein Vater weggegangen. Der hat den goldenen Westen gesehen und ihn bekommen. Für ihn war es wichtig, der Ernährer zu sein, aber auch, Karriere zu machen und reich zu werden. Seine Familie in Vietnam hatte er verloren, weil er den Vertrag, nach seinem Studium zurückzukehren, nicht erfüllt hatte. Für ihn wurde alles ein Wettbewerb. Er lebt nach dem Gesetz des Stärkeren. Immer an der Grenze der Regeln. Wenn ich ein Bild gemalt hatte, das er gut fand, hat er zu mir gesagt: ›Du musst jeden Tag üben und ein Bild malen.‹ Das hat’s mir natürlich gleich versaut. Er sagte ganz oft zu mir: ›Jule, eines musst du dir merken: Wir sind besser.‹«
»Wir müssen besser sein. Vielleicht.«
»Nein. So sind wir erzogen und das wird uns umbringen. An mir ist alles Ehrgeiz. Mein Name allein schon. Er hat uns ganz deutsche Namen gegeben, damit wir bloß keine Schwierigkeiten bekommen, und das Irre ist: Weil wir deutsche Namen haben, hat uns eigentlich niemals jemand auf unsere Herkunft angesprochen. Letztlich hatte er recht. Aber es fühlt sich seltsam an.«
»Sprichst du Vietnamesisch?«
»Kein Wort.«
»Wir müssten eigentlich total glücklich sein: Wir können uns frei bewegen, schlafen, wo wir wollen, leben, wo wir wollen, wir haben nicht mal eine Behinderung.«
|182| »Keine äußere.«
»Mein Stiefvater zum Beispiel«, sagt Jule, »Heinz-Peter. Der ist total normal. Ja, sogar nett. Der will nichts. Der verlangt nichts. Er hat uns kennengelernt, damals, als er Versicherungen verkauft hat. 1998 war er damit pleite und ist LKW-Fahrer geworden. Alles in Ordnung. Übrigens: Weißt du, ich weiß das alles erst seit letzter Woche. Ich musste nur einmal fragen und er hat alles sofort erzählt, es sprudelte richtig aus ihm heraus. 20 Jahre nix gewusst. Und dann kommt alles. Muss man immer erst fragen? Meine Mutter ist erst vor zwei, drei Jahren in eine psychosomatische Klinik gegangen, obwohl sie schon so lange so krank ist. Aber Psychotherapie, das hat man früher nicht vorgeschlagen, das war für die oberen Schichten. Da gab’s noch dieses Klassendenken in der Medizin. Wahrscheinlich überall. Ne, ich glaube, sehr stark war das hier. Meine Hausärztin, die hätte niemandem einen Therapeuten empfohlen. Never. Meine Mutter hat dann irgendwann immerhin die Tagesklinik ausgesucht. Was aber im Grunde sinnlos ist, nur Abwesenheit des Alltags kann hilfreich sein. Depressionen sind letztlich die Selbstzerstörung deines Selbstwertgefühls. Die Krankheit ist Ausdruck von Selbsthass. Man multipliziert das währenddessen noch mal. Du fühlst dich ja nie als Opfer. Du fühlst dich als Täter. Es ist eine Krankheit des Schuldgefühls.«
»Fünf Leute aus meiner Klasse machen inzwischen schon eine Psychotherapie und nehmen Antidepressiva.«
»Das Antidepressivum meiner Mutter war eine Zeitlang das Einkaufen. Sie war total fixiert auf Schuhe. Immer mit drei Kindern im Schlepptau von Geschäft zu Geschäft rennen.«
»Meine Mutter hat bei Otto bestellt. Für
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