Das Paradies
Privatsphäre. Fühlt sich ungefähr so an, wie wenn man die Unterwäsche von Freunden findet. Und sich natürlich wünscht, sie nicht gefunden zu haben. So ist das mit Prospekten.
»Wenn du denkst, dass …« Sie springt vom Bett auf. »Wenn du denkst, dass …« Sie dreht sich mit dem Rücken zu mir und faltet eine Wolldecke zusammen. So heftig, dass es Wind macht und ihre schwarzen Haare nach hinten fliegen. »Glaub bloß nicht …« Sie schaut mich wütend an. »Glaub bloß nicht, ich bin irre.«
»Du bist nicht irre. Wir sind nicht irre.«
»Du hast es geschafft«
»Ich hab gar nichts geschafft. Ich lebe vom Flaschenpfand.«
»Psychiatrie ist wie im Gefängnis: Du wirst super versorgt und hast deine Ruhe.«
Ich fahre zurück in die Stadt, Hans hat mir seinen Benz geliehen. An einer roten Ampel halte ich hinter einem weißen Van. Als es grün wird, steigen zwei Polizisten aus. Sie haben dunkelgrüne Overalls an und sind jung. Einer hat blondgefärbte, gegelte Haare. »Können wir mal Ihren Ausweis und den Führerschein seh’n?«, fragt der Blonde. Ich sage ihnen, dass ich beides gerade nicht dabeihabe. Blut habe ich auch nicht mehr, jedenfalls nicht im Gesicht. Mir wird schlecht. Sie gehen um das Auto herum. »Studieren Sie Jura?« Er zeigt auf einen roten Kommentarband: »Wem gehört das denn?«
|178| »Meinem Anwalt«, sage ich, ohne nachzudenken. Es stimmt ja.
»Und was macht der?«
»Na ja, der macht so Straßenverkehrsrecht.«
»Na gut, also heute gibt’s mal eine Verwarnung, weil Sie nicht angeschnallt sind.«
»Anschnallen! Ja klar.«
Jule treffe ich in einem Buchladen, sie sucht ein Geschenk für ihre Mutter. Die hat nicht Geburtstag und ist auch nicht krank. Sondern traurig.
»Manchmal verachte ich meine Mutter für ihre Schwäche«, sagt Jule. »Ich hab es für Schwäche gehalten. Alles. Den Job, die Zurückhaltung. Ich weiß, dass sie ihr Leben uns geschenkt hat. Ich weiß, dass sie unglücklich ist. Gibt es gute Menschen im Leistungsland? Sie hat drei Kinder durchgebracht als Krankenschwester. Schiebt immer Nachtschichten. Weil das mehr Geld bringt. Ich sehe sie müde, schlafend, langsam. Nachtarbeit macht dich fertig. Rauscht alles an dir vorbei. Irgendwie hat man als Kind immer das Gefühl, daran Schuld zu haben. So ein schlechtes Gewissen, das bekommst du nicht weg.«
»Was kaufst du ihr?«
»Weiß nicht, was von Foucault vielleicht.«
»Jule!«
»Was?«
»Bitte!«
»Nicht?«
»Ich habe meinem Vater mal zum Geburtstag das Buch von Manfred Krug gekauft,
Abgehauen
heißt das. Aber bevor ich es ihm geschenkt habe, hab ich unseren Anwalt gefragt, |179| und der meinte, das sei gar keine gute Idee. Das solle ich ganz schnell tauschen gegen etwas, das erstens nicht mit Flucht aus der DDR und Terrorstaat zu tun hat und zweitens den Geschmack meines Vaters trifft. Da hat Hans mich kalt erwischt. Ich dachte: Manfred Krug: Den verehren wir doch.
Mir nach, Canaillen!
und
König Drosselbart
haben wir bestimmt 20-mal gesehen und die Fernsehzeitung studiert, um seine Filme aufnehmen zu können. Manfred Krug. Der Mann mit der zurückgelehnten Stimme, das Gleichgültige darin, immer bockig. Manfred Krug als Manfred Krug.
Spur der Steine.
Kennst du
Spur der Steine
?«
»Nö.«
»
Spur der Steine
habe ich zufällig nachts in der ARD gesehen. Genau wie
Paul und Paula.
Schalte mal nachts um drei ARD ein, da kommen dann richtig gute Spielfilme. Jedenfalls:
Spur der Steine,
ich 14, esse Chips, verstehe nur den halben Text, so viel, dass mir schlecht wird. Da sage einer, Filme bilden nicht. Das war das Erweckungserlebnis, nach dem ich wusste, dass die DDR kein Paradies war, nicht für Intellektuelle und auch nicht für Arbeiter.«
»Und, was hast du deinem Vater nun geschenkt? Was war sein Geschmack?
»Keine Ahnung!«
Wir verlassen den Buchladen, gehen ein Stück die Straße hinunter.
»Was ist mit deinem?«
»Wem?«
»Deinem Vater.«
»Der wohnt schon lange in Ingolstadt.«
»Du hast mal gesagt, er war Schmuggler.«
»Nein. Eigentlich war er Architekt und hat in Weimar |180| studiert, erst später hat er nebenbei geschm… Mist, ich habe das Buch mitgenommen und nicht bezahlt.«
»Und jetzt?«
»Uups.«
»Hast du Geld.«
»Eher nicht so.«
»Dein Vater war Schmuggler.«
»Mann, nein, er war Architekt, dann hat er während der Wende natürlich, so waren sie ja erzogen, also dazu erzogen, jede Chance zu nutzen, jedes Geschäft zu erkennen, wenn sich eines bietet. Und das war
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