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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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Lebensverhältnisse herzustellen. Ja, auch um zu reisen. Obwohl ich nicht weiß, wie das gehen soll. Ob ein kommunistisches Land umgeben |169| von Ländern mit anderen Regeln ohne eine Mauer auskommt? Und dann war da noch die Mauer der Unwissenheit. Meine Mutter ist total erschüttert gewesen, als sie erfuhr, was in den Stasigefängnissen passiert war. Und meinem Vater hat die Erkenntnis, wie wenig dieses Land seinem Volk vertraut hatte, einen tiefen Schock versetzt. Wie groß musste das Misstrauen gegen die Bevölkerung gewesen sein, wenn jeder dritte Bewohner des Landes als Schnüffler angeworben wurde. Das ist doch krank. Aber jetzt heißt deine Heimat offiziell, also im Fernsehen, in den Geschichtsbüchern und in politischen Debatten, jetzt heißt sie Unrechtsstaat und sonst nichts. Und darf man um so einen Staat trauern?
    Aber dann, nach dem Schock, hat mein Vater für viele Jahre im Grunde aufgegeben. Meine Mutter konnte sich das schon wegen uns gar nicht erlauben. Sie nahm die Demokratie sehr ernst, nahm an jeder politischen Wahl teil, wurde Elternsprecherin in meiner Schule, gründete mit anderen Eltern und Lehrern einen Schulförderverein. Sie brütete über den Parteiprogrammen. »In diesem Jahr«, sagte sie einmal, blickte von der Lektüre auf und schob ihre Lesebrille in die kurzen, schwarzen, an den Schläfen ganz grau gewordenen Haare, »ist es wichtig, die Grünen zu wählen, damit die über die Fünfprozentmarke kommen und in den Landtag einziehen.« Sie überlegte. »Und dann, tja, SPD wahrscheinlich. Was sonst.« PDS könne sie nicht wählen, sagt sie, als ich mich sehr darüber wundere, dass sie das nicht in Betracht zieht, und auch nie über PDS-Politiker spricht. »Nach und nach kam das ja erst raus, wie groß die Zahl der Stasimitarbeiter war.« Sie habe das erst nach und nach erfahren, in der Zeitung nachgelesen, in der F. A. Z. 1996 haben meine Eltern die F. A. Z. abonniert. Auch das hat mich immer gewundert. |170| Sie sind nie von ihren Idealen, von sozialistischen Idealen abgekommen, aber sie lesen die F. A. Z. Mein Vater sagt, er sei konservativ. Er liest den Finanzteil, meine Mutter die Politik und inzwischen das Feuilleton. Der Schock jedenfalls, den sie immer wieder nach der Lektüre eines Artikels über die DDR erlitt, der saß tief. Sie hat sich dann immer zurückgezogen. Sie wollte das lieber allein mit sich ausmachen. Mein Vater hat es abgelehnt, diesen Artikeln zu glauben.
     
    Der Schock aber, von dem dann alle Welt sprach im Plattenbauviertel, das sei die Wende gewesen. Obwohl es vielen Leuten jetzt besser ging, viele auch reicher geworden waren, behaupteten sie, die Wende habe sie alle »ärmer« gemacht. Mit ärmer meinten sie aber vor allem die Unsicherheit. Den Umgang damit muss man lernen. Denn Freiheit, die neue Freiheit ohne Mauern, das ist nicht einfach Freiheit, das ist zunächst mal ein neuer Zustand. Ein Zustand, an den man sich gewöhnen muss. Aber sich an diesen neuen Zustand zu gewöhnen, das war wohl nicht leicht und auch nicht so schnell möglich. Wir stehen so gesehen immer neben unseren Eltern. Wir auf dem einen Planeten, sie auf dem anderen, auf ihrem Stern. Ihr Schmerz ist immer schon da gewesen. Er ist diffus. Eltern mit Zukunftsangst, sparende Eltern, traurige Eltern, fremde Eltern.
     
    Niemand wollte zugeben, dass er Trauer empfand. Wie konnte man Trauer um eine Diktatur empfinden? Das war doch krank. Vielleicht war das der Grund, weshalb es so schwer war, den Nachbarn und den Mitschülern zu erklären, dass ich nicht irre war, als mich meine Eltern in die Kinderpsychiatrie |171| einwiesen. Also, das heißt, meine Psychologin Hilde Tümmler und meine Psychiaterin Frau Dr. Siglinde Seitz, die ich mein Leben lang verehren werde. Sie hatte eine eigene Praxis, war aber auch die Chefin der Weimarer Kinderpsychiatrie. Die ist direkt am Rollplatz. Das ist der Parkplatz, unter dem der Thüringer König liegen soll. Nach dem wird aber nicht gegraben, aus Angst, er könne vielleicht doch nicht da sein.
    Den Sommer vor meinem achten Geburtstag verbrachte ich in der Psychiatrie. Es war ein langer Sommer, er begann im April und endete erst im Oktober. Das war die Zeit, als der Bosnienkrieg begann, 1992. Flüchtlingskinder kamen auf unsere Station. Sie haben schwarze Bilder gemalt, seltsame Bilder. Malten sie einen Ball, war der schwarz. Auch die Sonne war schwarz. Alles war schwarz. Ein Junge malte Maschinengewehre. Sie haben kein Wort gesprochen. Warum auch, sie

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