Das Paradies
Nachbarn usw.«
|183| »Ja, diese riesigen Pakete, die da im Hausflur standen. Konnten wir fast drin spazieren gehen. Und immer dieses Zurückschicken.«
»Immer diese Angst, zu wenig zu haben. Sie sind geprägt von der Mangelwirtschaft, in der man ja gelernt hat, sich mit den Dingen auseinanderzusetzen, die fehlen. Wie die Leute, die beim Fasten immer vom Essen reden. Das hat sich irgendwie gehalten. Als müsse man dem entgegenwirken oder dem vorbeugen, hat man ständig Waren geprüft, anprobiert usw. Im Keller zum Beispiel hat meine Mutter verschiedene vorsorglich bestellte Gläsersets. Brauchte bisher keiner, aber es könnte der Zeitpunkt kommen, da …«
»Vielleicht haben sie ja recht, und der Zeitpunkt kommt, vielleicht sind sie total viel klüger und misstrauischer und wenn das ganze System zusammenkracht …«
»… werden wir aus Kristallgläsern Sekt trinken.«
»Ja.«
»Und wir werden ihnen dafür danken.«
»Ja.«
»Was mir bei superkritischen DDR-Filmen noch einfällt. Der Regisseur Konrad Wolf ist der Bruder von Markus Wolf, das habe ich zufällig bei Wikipedia gelesen. Das bekomme ich nicht zusammen. Der Chef vom Geheimdienst ist der Bruder eines kritischen Filmemachers in einem sogenannten Unrechtsstaat.«
»Diktatur.«
»Diktaturenkinder.«
Wir gehen in die Planbar, schieben den dicken schwarzen Vorhang hinter dem Eingang zur Seite und bestellen jede ein Bier. Lucian schreibe ich eine SMS, dass wir hier sind, |184| und nach dem zweiten Bier klopft er mir auf die Schulter. Ich verstehe kein Wort, er sagt sicher hallo. Er ist schon sehr betrunken, das kann man an seinem Lächeln sehen und auch an seinem fragenden Blick. Und einer gewissen Langsamkeit. Wir setzen uns.
Er erzählt, dass er sich betrinken musste und auch unbedingt damit fortzufahren wünscht. Lucian ist inzwischen ein erfolgreicher Künstler. Er hat einen Preis gewonnen für eine Videoinstallation, er schreibt Theaterstücke für das Stellwerk, arbeitet mit dem Theater zusammen, studiert an der Bauhaus-Uni Freie Kunst, organisiert und kuratiert Ausstellungen. Er ist 26 Jahre alt. Weshalb er sich betrinken müsse, fragt Jule ihn.
Er schüttelt den Kopf und erzählt dann doch: Er habe einen Freund besucht. Der ist aus dem dritten Stock gesprungen, hat sich die Füße gebrochen und ist in derselben Nacht nach Hause gerobbt, quer durch die Stadt, über das glänzende Kopfsteinpflaster. Und der weigert sich, ins Krankenhaus zu gehen.
»Gibt es die Psychiatrie am Rollplatz eigentlich noch?«
»Keine Ahnung, aber der Rollplatz, das ist ein gutes Stichwort. Habt ihr das 99 mitbekommen? Die Rollplatzaffäre? Hier soll angeblich der älteste Thüringer König liegen.«
»Welcher?«
»Ein Thüringer König.«
Wir schauen uns fragend an. »Die Leute vom Kunstfest sind ja allesamt aus dem Westen, Bernd Kauffmann hat ja keinen engagiert, der aus dem Osten kommt. Als könnten alle nix, hier saßen Professoren und Künstler und Kulturschaffende, und über die geht man hinweg, als wären sie von der DDR-Krankheit befallen. Diese ganzen Stasisachen, wer |185| wann wo IM war usw., das wurde Mitte der Neunziger zu einem gefährlichen politischen Instrument. Hat ja jeder geglaubt, was die Stasi aufgeschrieben hatte.
Na ja, aber jedenfalls wurde 99 auch Daniel Buren engagiert. Von dem bin ich sowieso Fan. Ein Franzose, Installationskünstler, macht Konzeptkunst: Das wollte er auf dem Parkplatz in Weimar auch machen. Auf dem Rollplatz: Kopfsteinpflaster und Parkscheinautomaten. Da sollten jetzt also die Stelen hin von Daniel Buren. Und plötzlich formiert sich da Widerstand. Zehn Jahre hat man erst mal alles geschehen lassen, egal was passiert ist in der Stadt. Aber als es um den Parkplatz ging, gab es plötzlich ’ne ganz große Bürgerbewegung: Es ging gar nicht gegen die Kunst oder Daniel Buren, es ging um all die fremden Leute, die über deinen Platz entscheiden durften, über deine Heimat regierten. Mal abgesehen davon, betonten dann alle, ruhe, wie jeder gebildete Mensch wisse, unter diesem Parkplatz unser König.
»Unter einem Parkplatz?«
»Ja. Und Kauffmann hat dann vorgeschlagen, man könne den Platz doch mal aufreißen und nachschauen, ob da ein König ist.«
»Wollte keiner, bestimmt.«
»Nein.«
»Weimar hat einen König.«
»Die Weimarer glauben vor allem an ihren König.«
»Toll.«
»Aber Weimarer König, das passt doch ganz gut. Freie Marktwirtschaft und die Herrschaft des Kapitals, das ist ja nicht so ihr Ding.
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