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Das Paradies am Fluss

Das Paradies am Fluss

Titel: Das Paradies am Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Willett
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annehmen.«
    Und das hatte er getan. Er hatte seinen Vater nicht um Rat gefragt, hatte es nicht mit ihm besprochen, nichts dergleichen. Nein. Einfach: »Ich habe ein sehr gutes Angebot bekommen, und ich werde es annehmen.«
    »Um Himmels willen!«, braust Cass auf, wenn Tom das zu ihr sagt. »Ja und? Lass ihn doch in Ruhe! Warum kannst du nicht stolz auf ihn sein, weil er so erfolgreich ist?«
    Gereizt legt Tom die Zeitung zusammen und sieht wieder auf seine Uhr. Er war froh, als Cass zu ihrem Bridge-Vormittag gegangen ist und ihnen damit beiden Luft zum Atmen gegeben hat. In letzter Zeit haben sie öfters über Gemmas missliche Lage und – indirekt – auch über Olivers Einmischung gestritten.
    »Wir haben eine Tochter verloren«, hat Cass geschrien, »und ich möchte nicht noch eine verlieren. Gemma und die Zwillinge bleiben hier, bis sie bereit für den nächsten Schritt ist.«
    Sie hat es tatsächlich ausgesprochen: »Wir haben eine Tochter verloren.«
    Er sieht sie deutlich vor sich: Charlotte. Sie hätte sich nie so aufgeführt wie Gemma; sie war so reizend, sanft und liebevoll. Tom steht auf und tritt vom Tisch weg, als könnte er vor seinem Schmerz davonlaufen, vor der Angst, dass Gemma genauso eine Tragödie ins Rollen bringen könnte.
    »Das ist einfach Unsinn«, pflegt Cass zu sagen, außer sich über seine Besorgnis. »Das ist etwas vollkommen anderes. Die Zwillinge sind keine halbwüchsigen Mädchen mit einer überreizten Fantasie, und Gemma spielt nicht mehr mit dem Feuer. Um Gottes willen, reiß dich zusammen!«
    Er weiß, dass ihr Zorn der äußere Ausdruck ihrer eigenen Gewissensbisse und ihres Kummers ist, doch das hilft ihm nicht weiter. Was wird passieren, wenn Guy hart bleibt und Gemma in Zukunft allein mit den Zwillingen dasteht? Aber wenn er Cass diese Frage stellt, zuckt sie einfach mit den Schultern.
    »Andere Frauen haben das auch geschafft«, sagt sie.
    Und sie wissen beide, dass Oliver sich um seine Schwester und seine Neffen kümmern würde. Tom versucht herauszufinden, warum dieses Wissen ihn so aufbringt; schließlich will er selbst ja auch nicht, dass Gemma und die Jungs leiden. Er sucht nach einer Erklärung, findet jedoch keine. Alles, was er sieht, ist Charlotte auf der einen Seite, die auf so tragische Weise für sein und Cass’ Fehlverhalten gebüßt hat, und auf der anderen Gemma, die lässig und kaltschnäuzig vielleicht genauso eine Katastrophe heraufbeschwört. Es ist, als hätte Charlotte für sie alle gelitten. Versucht er nun aus schlechtem Gewissen, den Geist seiner toten Tochter zu beschwichtigen, indem er Gemma bestraft?
    Er braucht einen Drink, und es ist Zeit für die Nachrichten. Tom mischt sich einen Gin Tonic, schaltet den Fernseher ein und setzt sich auf das Sofa.

Tamar
    Die Flut kommt herein. Sie gleitet über das Watt und rückt den Vögeln – Möwen, Brandgänsen und Brachvögeln –, die am Rand der Fahrrinne picken und stochern, auf den Leib. Flussabwärts sind die beiden großen Brücken, Brunels Eisenbahnbrücke und die Straßenbrücke, ein elegantes Bauwerk neben dem anderen, in dem frühmorgendlichen Dunst kaum zu erkennen. Sie sehen zart und ätherisch und doch stark wie ein Spinnennetz aus. In der Uferzone ist die Flutgrenze als Ansammlung von Zweigen, abgebrochenen Ästen, Seegras und Blasentang zu erkennen. Als das Meerwasser in das Flussbett strömt, beginnen die Boote an ihren Vertäuungen zu schwingen, und ein weißer Reiher segelt über ihre Mastspitzen hinweg und spiegelt sich klar und glitzernd in der spiegelglatten Oberfläche des steigenden Wassers.
    Rowena steht an ihrem Schlafzimmerfenster und späht kurzsichtig auf die magische Szenerie hinaus. Ihre Erinnerung ergänzt das, was sie ohne Brille nicht mehr sehen kann, und erfüllt ihre tauben Ohren mit einst vertrauten Klängen: dem Trappeln der Möwenfüße im Schlamm, dem Knarren der schwingenden Bootsrümpfe, dem wehmütigen Ruf der Brachvögel.
    Bald wird es wie immer an der Tür klopfen, und Johnnie wird ihr, noch im Morgenmantel, den ersten Tee des Tages bringen. Sie wird ihn schroff behandeln, weil das ihre Art ist; sie hat nie gelernt, weich zu sein. Nur Alistair, ihrem Erstgeborenen, nur dem lieben Alistair gegenüber ist sie je in der Lage gewesen, wirklich Liebe zu zeigen. Sie waren gleich gewesen, Al und sie: zäh, gierig, anspruchsvoll und leidenschaftlich. Sie hat ihn verstanden, ihm nachgegeben und ihn vor seinen Kritikern abgeschirmt; und als er starb, ist ein Teil von ihr

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