Das Paradies am Fluss
ihr Jess stehen auf und schlagen das Faltblatt mit den Liedtexten auf.
»Ich hasse Beerdigungen«, erklärt Jess auf dem Rückweg nach Tavistock. Sie beugt sich nach vorn und ist den Tränen nahe.
»Das liegt daran, weil Sie so jung einen sehr wichtigen Menschen verloren haben«, meint Kate. »In diesem Alter ist es ein Schock, sich der Tatsache stellen zu müssen, dass wir nicht unsterblich sind.«
Kate fragt sich, ob das stimmt. Selbst hat sie keine Probleme mit Begräbnissen und hofft immer, dass der Verstorbene sich jetzt an einem glücklicheren, friedlicheren Ort befindet. Was sie hasst, sind Hochzeiten. Glückliche Mädchen in albernen, teuren Kleidern treten auf nervöse, hoffnungsvolle Männer in unbequemen Anzügen zu, und alle glauben, dass sie jetzt ein Glück wie im Märchen erwartet, und geben Versprechen ab, die sie unmöglich einhalten können.
Tut das nicht!, möchte sie dann am liebsten rufen. Das ist alles nur ein Mythos!
Das sagt sie Jess aber nicht.
»Es ist schrecklich«, bemerkt sie stattdessen, »schon als so junges Mädchen erkennen zu müssen, wie furchtbar endgültig der Tod ist.«
Zu ihrem Entsetzen beginnt Jess zu weinen. Sie zieht die Füße auf den Rand des Sitzes hoch, schlingt die Arme um die Knie und verbirgt ihr Gesicht dazwischen. Ihr Körper wird von Schluchzern geschüttelt, und Kate überlegt, ob sie anhalten oder lieber weiterfahren soll. Instinktiv setzt sie die Fahrt jedoch fort; sie wird Jess ins Moor bringen und hofft, dass die gewaltige Majestät der Landschaft und das Gefühl von Unendlichkeit ihren Schmerz lindern und heilen werden, so wie sie, Kate, es in der Vergangenheit auch erlebt hat. Schnell durchqueren sie die Stadt, schlagen die Princetown Road ein und passieren das Mount-House-Internat. Am Viehgitter biegt Kate nach links auf den kleinen Pfad ein, der unterhalb des Cox-Tors verläuft, und setzt den Wagen rückwärts in einen kleinen, ungenutzten Steinbruch.
Auf dem Rücksitz beginnt Flossie eifrig zu winseln. Jess hebt den Kopf; ihr Gesicht ist fleckig und rot, und ihre Augen sind angeschwollen. Sie sieht sich um.
»Kommen Sie!«, sagt Kate. »Wir spazieren mit Flossie zum Tor hinauf.«
Jess’ Augenbrauen schießen nach oben; beinahe bringt sie ein Lächeln zustande. »In diesen Schuhen?«
Kate sieht an sich selbst hinunter; sie hat vergessen, dass sie beide eleganter gekleidet sind als normalerweise.
»Ich habe ein paar Wanderschuhe unter dem Sitz«, erklärt sie, »und Gummistiefel im Kofferraum. Wir haben ungefähr die gleiche Größe. Der Ausblick wird uns den Kopf freimachen. Bei mir schafft er es immer, mir ein Gefühl für das wirklich Wichtige zu vermitteln.«
Sie wechseln die Schuhe, klettern am Rand des Steinbruchs hoch und schlagen den Weg zum Tor ein.
»Tut mir leid«, murmelt Jess. »Die Trauer überfällt mich immer ganz plötzlich. Albern, nicht wahr? Und nicht bei der Beerdigung selbst. Die war okay für mich. Aber nachher musste ich auf einmal an Pa denken, wie er war, und ich konnte es einfach nicht ertragen. Er fehlt mir immer noch genauso. Und jetzt …« Sie verstummt.
»Jetzt?«, hakt Kate behutsam nach.
Jess schüttelt den Kopf; sie schlingt die Arme um den Körper, bleibt stehen und sieht sich um. Flossie ist vorgelaufen, wuselt zwischen dem Geröll und den uralten Fundamenten von Rundhütten umher und folgt einer Fährte. Auch Kate hält inne. Sie schaut nach Westen, nach Cornwall, wo das geschützte, magische Tal von St. Meriadoc liegt und Bruno in seinem seltsamen Steinhaus auf der Klippe lebt.
Jess ist jetzt höher gestiegen und sieht nach Süden, weit über die aufgehäuften Granitbrocken des Pew Tor und die Schieferdächer von Horrabridge hinaus. Dort, in der Ferne, schlängelt sich ein schmales, glänzendes Band vom Meer aus landeinwärts.
»Ist das der Tamar?«, ruft sie und deutet mit dem Arm darauf. »Dieser Fluss?«
Kate klettert zu ihr hinauf, und dann stehen die beiden nebeneinander und schauen in Richtung Plymouth.
»Ja, das ist der Tamar«, antwortet Kate. Sie mustert Jess’ Gesicht, ihre merkwürdig nostalgische Miene. »Wissen Sie, ich denke, Sie haben Ihr Herz an diesen Fluss verloren.«
Nur einen Moment lang glaubt Kate, dass Jess sich ihr anvertrauen und sie in das eigentliche Geheimnis einweihen wird, doch stattdessen nickt sie lächelnd.
»Ja, so ist es wohl«, sagt sie.
Tamar
Nach dem Begräbnis scheint es, als trüge alles Trauer um Rowena. Nach dem langen, schönen Herbst schlägt das
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