Das Paradies der Damen - 11
Pauline hatte unvorsichtigerweise ein Wort fallen lassen. Als sie heruntergekommen war, hatte sie in der Spitzenabteilung Deloche getroffen, und ohne zu bemerken, daß Li[/e]nard in der Nähe war, hatte sie ihm die Neuigkeit erzählt.
»Nun ist’s passiert, mein Lieber, sie hat soeben einen Brief erhalten, er lädt sie für heute abend ein.«
Deloche wurde blaß. Er hatte begriffen, denn er fragte Pauline des öfteren aus; sie plauderten alle Tage von ihrer gemeinsamen Freundin, von der Liebeslaune Mourets, von der berüchtigten Einladung, mit der das Abenteuer enden mußte. Sie schalt ihn übrigens aus wegen seiner heimlichen Liebe zu Denise, bei der er niemals etwas erreichen werde, und sie zuckte die Achseln, als er jetzt sagte, das junge Mädchen habe ganz recht, daß es dem Chef Widerstand leiste.
»Ihr Bein ist wieder gesund, sie kommt herunter«, fuhr Pauline fort. »Machen Sie doch keine solche Leichenbittermiene … Es ist ein Glück für sie, was jetzt geschieht.«
Damit eilte sie in ihre Abteilung zurück.
»Aha!« sagte Liénard; »es handelt sich um das Fräulein mit dem kranken Fuß!… Nun, da hatten Sie ja allen Grund, sie gestern abend im Café so warm zu verteidigen!«
Hierauf ging auch er, und ehe er in seiner Wollwarenabteilung angelangt war, hatte er die Geschichte weiteren vier oder fünf Angestellten erzählt, und in weniger denn zehn Minuten machte sie die Runde durch alle Abteilungen.
Die letzte Bemerkung Liénards bezog sich auf eine Szene, die sich am Abend vorher im Café Saint-Roch zugetragen hatte. Deloche und Liénard waren seit kurzem eng befreundet. Deloche hatte Hutins Zimmer im Hotel Smyrna übernommen, als dieser zum Zweiten ernannt worden war und sich eine Dreizimmerwohnung gemietet hatte. Die beiden Angestellten kamen jeden Morgen zusammen ins »Paradies der Damen« und gingen am Abend miteinander fort. Ihre Zimmer lagen nebeneinander, und sie vertrugen sich trotz der Verschiedenheit der Charaktere recht gut. Nur in einem Punkt waren sie einander ähnlich: in ihrer Ungeschicklichkeit als Verkäufer, die ihnen jede Hoffnung auf ein Vorwärtskommen nahm. Wenn sie das Geschäft verließen, gingen sie ins Café Saint-Roch, das abends von dem geräuschvollen Treiben der Verkäufer erfüllt war. In einem Winkel links saß dann Liénard und ließ sich köstliche Sachen geben, denn er wurde von seinem Vater unterstützt, während Deloche sich mit einem Glas Bockbier begnügte, mit dem er vier Stunden hinbrachte. Hier nun hatte er gestern gehört, wie Favier an einem benachbarten Tisch abscheuliche Dinge über Denise erzählte, über die Art, wie sie den Chef »eingefangen« habe, indem sie die Röcke aufhob, wenn sie vor ihm die Treppe hinaufging. Deloche hatte an sich halten müssen, um ihn nicht zu ohrfeigen. Als der andere aber fortfuhr und behauptete, daß Denise jede Nacht zu ihrem Geliebten hinuntergehe, geriet Deloche in die höchste Wut und nannte Favier einen Lügner.
»Dieser widerliche Kerl! Er lügt, hören Sie, er lügt! Ich kenne sie! Ich weiß es ganz genau … Sie hat nur für einen Mann in ihrem Leben etwas empfunden, das war Hutin, und der hat nicht einmal etwas gewußt davon; er kann sich nicht rühmen, sie auch nur mit einem Finger berührt zu haben!«
Das ganze Geschäft belustigte sich nun über diesen Streit, von dem die übertriebensten Schilderungen gegeben wurden, als die Geschichte von dem Brief Mourets die Runde machte. Liénard hatte sie zunächst einem Seidenverkäufer anvertraut. In dieser Abteilung ging die Inventur rasch vonstatten. Favier und zwei Angestellte leerten die Fächer und reichten die Stoffe Hutin, der mitten auf einem Tisch stehend die Angaben auf den Auszeichnungsanhängern ausrief. Dann warf er die Stücke zur Erde. Nach und nach bedeckten sie das ganze Parkett und bildeten einen immer größeren Haufen. Gerade rief der Zweite: »Phantasieseide, kleinkariert, einundzwanzig Meter zu sechs Franken fünfzig!«
Das Stück wanderte zu den übrigen auf den Boden, und Hutin setzte das Gespräch fort, das er mit Favier begonnen hatte.
»Also er wollte Sie prügeln?«
»Freilich, ja! … Es war wohl der Mühe wert, mich Lügen zu strafen! Die Kleine hat soeben einen Brief vom Chef erhalten, der sie zum Essen einlädt, man spricht schon im ganzen Haus davon.«
»Wie, ist die Sache nicht längst soweit?«
Favier reichte ihm ein neues Stück.
»Nicht wahr, man hätte die Hand dafür ins Feuer gelegt! Das schien doch eine uralte
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