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Das Paradies des August Engelhardt

Das Paradies des August Engelhardt

Titel: Das Paradies des August Engelhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Buhl
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sondern Schicksal, einer starb und einer lebte weiter, er trug keine Verantwortung dafür; wir Überlebenden müssen nichts sühnen, so hatte das Walter ausgedrückt, auch neben ihm ging ein Toter, aber er hielt ihn mit leichterer Hand als der Tote, der neben Engelhardt ging; der hatte einen kalten Griff, mehr eine brüderliche Umarmung, sodass ihm der Atem oft stockte.
    Der Weg zurück war länger, als er ihn in Erinnerung hatte, als hätte die Insel die Dunkelheit genutzt, um sich ein wenig zu strecken. Im Grunde war egal, wo er schlief, sagte er sich, schön war es überall, jeder Fleck lud ihn ein, doch sein Platz war bei den Büchern, schon immer war er bei den Büchern zu Hause gewesen, auch wenn das dekadent war, wie Diefenbach gesagt hatte, denn das einzig wahre Buch sei das Buch der Natur, darin müsse man lernen zu lesen, hier seien alle Geheimnisse versteckt. Nur die Maler würden sich diesem Mysterium annähern, voller Demut und auf den Knien, um einen winzigen Aspekt dieser Welt darzustellen, während die Schreiber doch nur eine andere Welt entwarfen, die immer nur ärmer sein konnte und falsch.
    Trotzdem hatte er ihm am Tag ihrer Ankunft ein Buch in die Hand gedrückt, ein leeres Buch. Hier sollten sie alles notieren, was ihnen wichtig war. Ihre Gedanken, Gefühle, die Erkenntnisse, die sie haben würden, denn die würden sie auf jeden Fall haben, den Kern ihrer Existenz würden sie hier berühren und verwandelt wieder in die Welt treten. Engelhardt hatte gleich begonnen zu schreiben, das heißt eher versucht zu beginnen, denn wie sollte er Anna beschreiben und wo anfangen, systematisch von oben nach unten oder eher seinem Blick folgend, dem Blick, den er haben würde, falls er sich unbeobachtet fühlen würde, also Seiten über ihr Geschlecht, ihre Brüste, anschließend die Augen, durchdringend und ein wenig kalt? Das Mysterium ihrer Achselhöhlen. Als Nächstes ihr Mund, die Unterlippe weich und voll, die Oberlippe schmaler und etwas kürzer. Ihre Oberschenkel, gebräunt von der Sonne, die Arme, die kräftigen Hände mit den kurz gebissenen Nägeln. Oder doch eher von außen nach innen, beginnen bei dem, was er sah, und dann Satz für Satz vordringen in ihre Seele, sie schälen wie eine Zwiebel, doch dafür wusste er zu wenig von ihr, noch jedenfalls, aber das würde er ändern. Oder schreiben, wie er ihr hätte begegnen wollen, ein Feuer wäre ausgebrochen, sie lehnt schreiend am Fenster im vierten Stock, und er hastet durchs Treppenhaus, feuchtes Tuch über dem Mund gegen den Qualm, schlägt die Tür mit der Axt ein, legt sie sich über die Schulter und trägt sie ins Freie. Ein Verbrecher raubt eine Bank aus, hält ihr das Gewehr an den Kopf. Er bietet sich dem Räuber als Geisel an, sie kommt frei, er selber wird angeschossen, schwer verletzt, und ihr Leben lang wird sie ihm dankbar sein müssen. Sie ist zu weit rausgeschwommen, die Kräfte schwinden, ein verzweifelter Schrei, er krault durchs Wasser, die Strömung treibt sie immer weiter, schon versinkt ihr Kopf, er kann sie gerade noch greifen, mit letzter Kraft erreicht er das rettende Ufer. Oder einfach auf der Straße. Kartoffeln fallen ihr aus dem Korb, er hilft beim Einsammeln. Im Konzert säßen sie zufällig nebeneinander. Gespräche in der Pause, die erste Geige klingt etwas verstimmt und die Bläser setzen ständig zu früh ein. Sie zieht in die Nachbarwohnung und sie treffen sich auf dem Flur. Stattdessen schrieb er nur ihren Namen in Druckschrift, Schreibschrift, Kurzschrift, Fraktur.

Mitten in der Nacht weckten ihn Trommeln. Dumpfe Schläge wehten von weither übers Wasser, kein Lied, kein Rhythmus, mehr eine Botschaft. Die Antwort kam von seiner Insel, höher die Töne, die Schläge schneller und aggressiver. Eine dritte Trommel fiel ein, widersprach tief und nachdrücklich. Irgendwo lief ein Krebs über den Strand, er hörte das Klappern der Beine, als es für einen Atemzug still war, Ruhe vor dem Sturm, dem Streit der Trommler, die immer wütender wurden, jetzt schlugen sie durcheinander, beschimpften sich, trommelten Flüche übers Meer und Zaubersprüche, bis die Luft vibrierte, selbst die Vögel im Wald waren verstummt, sogar das Pfeifen der Kakadus und das Schnarren der Papageien. Nur kurz heulte eine Lauftaube, als habe man einem Dreijährigen das Spielzeug zerbrochen und ihm beim ersten Weinen den Mund zugehalten. Selbst der Boden der Insel schwang bei jedem Schlag nach wie das Fell einer Trommel, vor allem als die

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