Das Paradies des August Engelhardt
von der Befreiung von den Tonleitern, eine neue Musik, August, oder eine ganz alte, die noch weiter zurückgeht als die der Griechen, keine Tonleitern, nicht einmal Halbtonschritte, sondern Vierteltöne, Achteltöne, zwischen C und Cis singen sie zwei oder drei weitere Töne, für die wir keine Namen haben, sie haben eigene Intervalle, eigene Modulationen, einstimmig zwar, aber das macht das Zuhören leichter, als polyphone Musik wäre das kaum zu begreifen. Zuerst dachte ich, sie singen ganz falsch, aber das ist es nicht, ich würde es gerne notieren, aber unsere Noten sind dafür zu beschränkt, und wenn ich sie notieren könnte, gäbe es kaum Instrumente, um sie zu spielen, aber einen Versuch wäre es wert, und darauf basierend eine Oper, die so neu wäre, dass sie für die nächsten dreißig Jahre keiner versteht und alle mich für einen Stümper halten, aber schließlich würde man erkennen, welche Qualität darin liegt, und mich feiern, Mitte fünfzig wäre ich dann, das wäre noch nicht zu spät, und die ganze Musik würde eine neue Richtung nehmen, ich würde die Oper Kabakon nennen, was hältst du davon, Kabakon oder der Sonnenorden, ich würde unser Leben erzählen, es wäre eine moralische Oper, denn auch Musik hat eine Moral, auch wenn man sie nicht immer erkennt, am deutlichsten bei Mozart, wo das Gute siegt, und wenn nicht das Gute, dann wenigstens die Güte, sodass man aus dem Konzertsaal geht wie aus einer Kirche, wo wir gerade von Kirche sprechen, Pater Joseph lädt uns zum Ostergottesdienst ein, in vier Tagen, lass uns hingehen, er freut sich. Engelhardt nickte. Wenn schon Kirche, dann an Ostern, dem Lichterfest, dem Fest von Eos, der Göttin der Morgenröte, der Schwester der Sonne. Vor drei Tagen war Palmsonntag gewesen, den hatte er eigentlich feiern wollen zu Ehren der Kokosnuss, aber er hatte hier keinen Kalender. »Vom Eise befreit sind Strom und Bäche, durch des Frühlings holden, belebenden Blick, im Tale grünet Hoffnungsglück. Der alte Winter, in seiner Schwäche, zog sich in rauhe Berge zurück. Goethes Osterspaziergang. Ich glaube, es gibt keine Situation ohne ein Gedicht des Meisters. Das ist eine fremde Welt, die erst vom Frühling befreit werden muss und in der der Winter nie ganz besiegt ist, sondern in den Bergen hockt und auf seine baldige Rückkehr wartet. Sehr fern von unserer Sonneninsel.«
»Was würde Goethe hier schreiben?«
»Nichts. Gar nichts würde er schreiben. Er würde Nüsse ernten, im Meer baden und das Leben genießen.«
»Hätte das Goethe gereicht?«
»Uns reicht es.«
Max schüttelte den Kopf, noch, wollte er sagen, noch reicht es uns, aber es wird nicht ewig reichen, aber er sagte es nicht, denn er wusste, Engelhardt würde das nicht verstehen, er glaubte an die Insel und die Sonne. Zweifel daran war Verrat.
Es war noch dunkel, als sie zur Mission ruderten. Das Meer lag glatt und schweigend, das einzige Geräusch die Ruder im Gleichtakt. Engelhardt kannte das Gefühl, den leichten Dunst über dem Wasser, das ruhige Glück, doch diesmal war keine Schlinge im Boot, keine Keule und keine Rassel, kein Hai würde kommen und er nicht zum Mörder werden, heute nicht, doch das stimmte nicht, zum Mörder wurde man nur ein einziges Mal, Mörder blieb man, das wusch keiner ab, nicht das Meer und nicht die Sonne, auf ewig würde er der bleiben, der den Schädel eingeschlagen hatte, mit der Holzkeule und einer blutigen Lust, und er sah auf den Hinterkopf des Musikers, der bei jedem Schlag des Ruders nach links nickte, sich wieder aufrichtete, das blonde Haar, das längst schon verfilzt war, ob der Schädel ebenso hart war wie der eines Hais oder bei einem einzigen Schlag schon zerbrechen würde? An der Mole der Missionsstation lagen Dutzende Kanus. Die Kirche würde voll sein, einige Pfund Tabak kostete das den Pater, eine Ration dafür, dass sie kamen, und eine zweite, damit sie ein Lendentuch anlegten und die Frauen ihre Brüste verhüllten. In der Kirche wurde geredet und gelacht, Engelhardt erkannte ein paar der Wörter und Sätze, ihre Sprache hatte er nicht vergessen, obwohl es Monate her war, dass er mit ihnen gesprochen hatte. Die Flügeltür der Kirche stand offen. Es roch nach Kerzen und Weihrauch, den ein schwarzer Ministrant schwenkte. Er erkannte Kabua trotz der Dunkelheit, nicht das Gesicht, sondern die Haltung des Häuptlings, aufrecht und sprungbereit und doch entspannt wie eine große Katze. Kabua winkte ihm zu, setz dich, sagte er auf Tolai,
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