Das Paradies des August Engelhardt
Ende. Der zweite Weiße, der seit einigen Monaten auf Kabakon lebt, wird erst noch ein Lied spielen. Er ist schon oft bei ihnen gewesen, um ihre eigenen Lieder zu hören, jetzt gibt er ihnen eines seiner Lieder zurück. Es beginnt mit einer kurzen Frage aus Tönen, dreimal wird sie wiederholt, die Kinder stellen sie, die Frauen und die Männer, es ist die Frage an den Gott der Christen, wo er ist, sie rufen ihn, seinen Namen, laut wie die Schläge der Trommel, schließlich fragen alle gleichzeitig und durcheinander. Es ist Krieg zwischen den Gesängen. Sie schmerzen im Bauch, als hätte man ihm Obsidiansplitter ins Essen gemischt, die ihn von innen zerreißen, doch bevor er sich übergeben muss, wird Friede zwischen den Stimmen. Der Ruf geht über die Baumwipfel hinaus in den Himmel und verhallt und findet keine Antwort, deswegen fragen alle noch einmal, Gott der Christen, wo bist du, diesmal beginnen die Männer, Frauen und Kinder fallen mit ein, und dann stellt jeder Einzelne der Sippe die Frage, er hört seine eigene Stimme und die seiner Frauen, seiner Söhne und Töchter, immer drängender wird die Frage, sie tanzen die Frage und halten die Speere dabei in die Luft, genau so klingt das Lied, und doch ist kein Gott, der antwortet, und das Instrument erzählt vom Leben im Dorf, da sind die Trippelschritte der Hühner, das Grunzen der Schweine, Kopra wird getrocknet, die Frauen kommen von den Feldern mit der Ernte, Männer sitzen und reden, sammeln Muscheln am Meer, der Wind geht in den Palmen, die Frage ist längst vergessen und nicht mehr wichtig, wichtig ist die Kava, die gebraut wird, und dass der Chinese neue Äxte bringt, in einigen Monaten wird man ein Fest feiern, das Männerhaus braucht ein dichtes Dach, doch am Horizont ballen sich schwarze Wolken und kommen näher, ein ferner Donner aus Tönen rollt übers Wasser, es blitzt, ein Sturm zerreißt die Hütten, zerfetzt die Palmen. Zwei der Kanus voller Männer kentern, und keiner von ihnen wird das Ufer erreichen. Trauer liegt über dem Dorf und wieder die Frage nach dem Gott der Christen, und wo er ist, und der Gott spricht jetzt zu ihnen. Seine Stimme ist ruhig und sanft, nicht die Stimme des Donners und des Sturmes, und einen Moment später spricht er mit einer zweiten Stimme, zart wie die einer jungen Frau, und beide Stimmen winden sich umeinanderwie Lianen im Wald. Er macht keine Versprechen, nicht wie die Zauberer ihrer Dörfer, er spricht nicht von den großen Dingen, sondern den kleinen, die nächste Stimme kommt dazu, immer feiner werden sie und doch immer deutlicher, auch die windet sich nach oben, die vierte Stimme, er gibt allen einfache Regeln, an die sie sich halten sollen, zuerst den Männern, dann den Frauen, immer die gleiche Regel, aber Einzelne widersprechen, sie wollen nicht gehorchen, nicht diesen Regeln, nicht diesem Gott, und sie werden lauter, und schließlich rufen alle durcheinander, vor allem die Zauberer, die die Macht der fremden Magie fürchten, Kinder fangen an zu greinen, Frauen singen ihre eigenen Lieder, er erkennt die Melodien, nur die Stimme des Gottes ist kaum noch zu hören in dem Lärm, sie wird leiser, fast schon verstummt sie, als ob es ein schwacher Gott ist, den sie niederschreien, so scheint es für einen Moment, aber dann fährt seine Stimme gewaltig in den Lärm mit der Kraft eines großen Kriegers, sie widersprechen zwar noch, aber ihr Widerspruch hat sich verändert, sie widersprechen mit der Stimme Gottes, die aus ihrem eigenen Mund kommt und die gleichzeitig wütend ist und traurig und voller Sehnsucht, dass es einen im Kopf schmerzt, Kabua kennt das Gefühl, wenn ein Sohn stirbt, so fühlt sich Gott, und er spricht die Sprache der Menschen, und sie sprechen mit seiner Stimme und singen für ihn, und er ist in den Tönen und in der Stille danach. Kabua steht auf. Er hat das Gefühl, er hat schon gebetet.
»Eine Dienerin der Theologie«, wiederholte Pater Joseph, »das ist die Aufgabe der Musik im Gottesdienst, eine Dienerin und kein Ersatz, da muss man aufpassen. Sie ist kein Sakrament, kein Zeichen, das als sichtbare Handlung die unsichtbare Wirklichkeit Gottes bewirkt.«
»Aber sie ist der Predigt überlegen«, sagte Lützow. »Deswegen hat man Bach schon als jungen Mann angegriffen und getadelt, immer wieder: Zu viele Variationen mache er, zu viele fremde Töne mische er in sein Orgelspiel, sodass die Gemeinde verwirrt sei, so schrieben sie, das müsse er unbedingt lassen, das gaben sie ihm tatsächlich
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