Das Paradies des August Engelhardt
übermäßige Quarte, der Teufel in Tönen, die eisenbeschlagenen Räder der Droschken auf dem Steinpflaster, die Schläge des Schmieds, Gewehrsalven aus der Kaserne, Liedfetzen, Marktschreier, jammernde Bettler, greinende Säuglinge, Tellerklappern aus der Taverne, doch das war vorbei, denn hier wird er Ruhe finden und die Musik des Himmels hören, nicht gleich natürlich, noch waren zu viele Töne im Kopf, deren Nachhall erst langsam verklingen musste, vor allem das Stampfen der Maschinen des Postschiffes, mit dem er aus Hamburg gekommen war, wochenlang war er dem ausgesetzt gewesen und fand nur Erlösung in den Momenten, in denen er sich im Speisesaal ans Klavier setzte, um dem stumpfsinnigen Viervierteltakt etwas entgegenzusetzen, Mozart meistens, seltener Beethoven, den wollte er erst wieder spielen, wenn er gänzlich gesundet war, Beethoven nicht, aber selber zu spielen war nicht mehr von Bedeutung, deswegen hatte er auch kein Instrument mitgenommen. Seitdem er denken konnte, hatte er Musik gemacht, die erste Geige mit drei, französischer Lehrer mit Hasenscharte, der ihn immer nur lobte, der hatte sein Vertrauen in die Musik geschaffen, und dafür verfluchte er ihn, lieber hätte er Vertrauen in Dinge besessen, die nicht so flüchtig waren wie Töne, aber das hatte ihn keiner gelehrt.
Auf der Insel würde er nur warten auf die Astralmusik, der Himmel selber, der Klang wird, das Tönen der Welt. Einmal nur hatte er sie ganz deutlich vernommen in Prag, ein Konzert, schlecht besucht, es war am Anfang seiner Karriere, er war gerade erst siebzehn, der Flügel zu weich und zu schwammig, er mochte sie lieber klar und präzise, es sei denn er spielte Brahms, am Ende des zweiten Satzes von Schuberts B-Dur-Konzert, wo die Töne scheinbar im Nichts entschwinden, aber tatsächlich eine Tür aufstoßen, damit jene andere Musik eintreten kann, die so unendlich viel größer und reiner ist, und er hatte eine Pause gemacht, um zu horchen, die Klänge mit ganzer Seele aufzunehmen, und auch das Publikum hatte es gespürt und wagte kaum zu atmen, so rein war diese Musik, so erfüllend; die Chöre der Engel waren das, und alle saßen und würden es nie wieder vergessen, da wieherte draußen ein Pferd, eine Peitsche knallte, und plötzlich erstarben die Töne. Einer hustete. Ein anderer scharrte mit den Füßen. Stühle knarrten. Er hatte den Klavierdeckel zugeklappt und das Konzert beendet, und alle hatten verstanden. Seitdem suchte er diese Musik, aber immer nur hörte er einige Bruchstücke davon, ein Achtel lang oder ein Viertel, selten einmal einen ganzen Takt, obwohl er immer wieder Schubert spielte, aber nie wieder auf die richtige Weise, dafür geschah es in der Aria der Goldberg-Variationen oder mitten im Stabat mater von Pergolesi, manchmal in den Opern Mozarts, seltsamerweise häufig nach dem Getöse des Schlussakkords, immer unerwartet wie ein Überfall, und immer ließ es ihn glücklich und hilflos zurück. Er horchte in sich hinein und wusste nicht, welchen Meeres Rauschen er hörte.
Als er die Augen öffnete, sah er seinen Gastgeber auf sich zukommen, schlank, braun gebrannt, Lendentuch, mit langsamen Schritten, in der Hand eine Kokosnuss, die er ihm reichte, Ich begrüße dich auf Kabakon. Angenehme Stimme, Bassbariton, er könnte gut die Leporello-Arie singen, die Augen blau und rein, sie waren einen weiten Horizont gewöhnt, trotzdem lag eine leise Trauer darin, ein fernes Unglück.
Sie gaben sich die Hand und stellten sich mit Vornamen vor, sie waren Brüder im Geist und würden sich duzen, die Förmlichkeiten hatte er in Herbertshöhe gelassen, wo der Gouverneur ihn noch zu einem Konzert genötigt hatte, das letzte für lange Zeit, das Klavier war verstimmt gewesen und die Zuhörer Banausen.
Gemeinsam trugen sie die Koffer zu einer kleinen Hütte. Viel Gepäck hatte er nicht, das brauche er nicht, hatte August geschrieben, nur ein paar Partituren, falls er Sehnsucht bekam nach der Musik, Kleider, einige Fotos. Dann badeten sie. Das Meer war warm und bewegt. Wenn er tauchte, hörte er eine Musik, die ihm neu war, ein leises Zischen, zweigestrichenes D, wenn die Wellen vom Strand rollten und den weißen Sand mit sich zogen, dazu das Pizzicato der Gischtspritzer, etwas tiefer ein Gurgeln und Sprudeln von den Strömungen an den Felsen, die gurgelnde, blubbernde Melodielinie, ein brausender Kontrapunkt und unendlich tief und mehr im Bauch zu spüren als in den Ohren zu hören das Grollen vom Riff her, wo das
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