Das Paradies des August Engelhardt
unendliche Meer gegen den Ring der Korallen stürmte wie eine feindliche Armee. Er hielt die Augen geschlossen, trotz der Farben der Fische, ließ sich treiben als Teil dieses Konzerts, sang dazu, verschluckte sich, ziemlich salzig das Meer, lachte, spuckte aus, sang weiter und ließ sich schließlich ans Ufer spülen.
»Ich suche den Ton, in dem alle Stille ist und alle Lieder«, sagte er zu August, als sie später vor der Hütte saßen, Ananas und Orangen schälten und aufs Wasser sahen, »ich weiß, dass es ihn gibt, ich habe ihn schon manchmal gehört, aber immer zu kurz, und auch das ist schon länger her. Früher, als ich noch jünger war und aufmerksamer und noch zugehört habe. Ich will ihn hören und anbeten, denn eigentlich lehrt einen das die Musik: Bescheidenheit, Demut und Hingabe, ohne diese Eigenschaften ist man kein Musiker, sondern tut nur so als ob, aber das hatte ich vergessen. Der Applaus war zu laut geworden, nur den hab ich am Ende noch gehört, nur dessen Lautstärke gemessen, das war mein einziges Kriterium für die Musik: Wie laut wurde geklatscht und wie lange. Die einzige Währung, die mir etwas bedeutete. Drei Minuten forte, und ich war glücklich, eine Minute mezzoforte wütend, dreißig Sekunden piano machten mich traurig. Nicht die Töne wollte ich zum Klingen bringen, sondern die Hände des Publikums. Das war mein Fehler, für den ich belohnt wurde; immer werden wir für unsere Fehler mehr belohnt als für unsere Tugenden. Jede weitere Belohnung verstärkte mein Laster, dabei wusste ich immer, was ich eigentlich will, aber dieser Wunsch lag zu weit innen, wurde immer leiser, während die Welt dröhnte, noch ein Konzert, noch mehr Geld, gute Presse, Einladungen, schöne Frauen, ich war hochmütig und unglücklich und merkte es nicht, wie man sein Unglück oft erst in der Rückschau begreift. Seltsam eigentlich, dass man der Stimme des Herzens nicht mehr vertraut, dabei liebe ich die Musik, denn letztlich ist alles Musik, der Fels, an dem wir lehnen, ist zu Stein gewordene Musik, die Palme ist Musik, das Meer, alles ist Musik. Am Anfang ist das Lied, das hat Luther falsch übersetzt, nicht das Wort, sondern das Lied, denn noch bevor der erste Mensch den Mund aufgetan hat, um einen anderen zu beleidigen oder einen Befehl zu erteilen, hat er gesummt und gesungen.«
»Es schläft ein Lied in allen Dingen«, sagte August. »Eichendorff schreibt das. Ich habe nie ganz begriffen, was er damit sagen will. Es schlaf ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort. Aber jetzt verstehe ich ein bisschen. Ich kannte nie einen Musiker, ich kannte nur einen Maler. Dem war nur wichtig, was man sah.«
»Die Augen sind das Problem. Wir sehen zu viel. Aber das Auge ist dumm und schwach. Es gleitet nur über die Oberfläche und nimmt nicht wahr, was wirklich ist. Die Linse verzerrt die Welt. Wir müssen hören, das ist der Weg. Nur das Ohr kann uns erlösen. Manchmal habe ich schon daran gedacht, mich zu blenden, um besser hören zu lernen. Wie reich muss die Welt der Blinden sein, ganz einzutauchen in einen Kosmos der Töne, ohne jede Ablenkung ins Universum des Klangs. Und wie elend ist im Vergleich die Welt der Tauben. Kein Schicksal härter als das Beethovens, die einzige Musik nur noch im Geist hören zu können, das ist die erbarmungsloseste Strafe Gottes.«
Sie saßen, bis die Sonne sank und Engelhardt Goethe zitierte, die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang, und Lützow war begeistert, das kannte er nicht, aber genau das meine er: Die Sonne selber singt ein Lied und alle Sterne und Planeten mit ihr, er hat halt nichts gelesen außer den Biographien der großen Musiker, nicht einmal Goethe, sicher ein Fehler, aber er kann das hier nachholen, keine Bücher gelesen, sondern geübt, immer wieder Tonleitern rauf und runter, schon als er kaum laufen konnte, das Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach, Schumanns Album für die Jugend, aber Lesen ist gut und richtig, kein Werk der Augen, das täuscht, auch wenn man die dafür braucht, aber Lesen ist vielmehr ein Hören, ein verinnerlichtes Hören eben, eine Rezitation der Stimme des Autors, der man lauscht. Über Welten und Zeiten hinweg konserviert sich die Stimme auf dem Papier, mal ein Flüstern, mal ein Stöhnen, eine Klage, Dozieren, Geschrei, aber immer Klang, immer ist da einer, der spricht, und einer, der lauscht, verbunden in einer seltsamen Intimität,
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