Das Paradies ist anderswo
um ihr Gedächtnis gebracht.
Es war gut und richtig gewesen, die oberen Ecken mit diesem verblaßten Gelb abzuheben, um die Vorstellung eines alten Freskos mit vom Alter verwischten Rändern hervorzurufen. Das galt auch für den konstanten Ton der Landschaft, der vom sanften Blau und vom Veronesegrün des Hintergrunds getragen wurde, auf dem sich tanzende Zweige und Stämme wie Tentakel oder Schlangen umeinander wanden. Die Bäume, die einzigen kriegerischen Gestalten des Bildes. Die Tiere dagegen waren friedlich: Die Katzen, das Zicklein, der Hund, die Vögel lebten brüderlich mit den Menschen zusammen. Selbst die alte Frau auf der linken Seite, die sterben würde oder vielleicht schon gestorben war und in der Stellung der peruanischen Mumien dahockte, die du nie hattest vergessen können, schien sich mit ihrer Auslöschung abzufinden.
Und die beiden in rosafarbene Tuniken gehüllten Gestalten, die im Mittelgrund, unter dem Baum der Erkenntnis, gegen die Zeit, vom Tod zum Leben, schritten? Währenddu sie maltest, kam dir der Gedanke, du selbst könntest das sein, mit der unglücklichen Aline. Doch nein. Diese miteinander flüsternden Gestalten stellten nicht dich und deine tote Tochter dar. Sie waren auch keine Tahitianer. Es lag etwas Unheimliches, Plumpes, Ränkesüchtiges, Nichtiges in ihrer Art der Heimlichtuerei, der Beschränkung auf sich selbst, der Interesselosigkeit für ihre Umgebung. Er schloß die Augen, suchte tief in seinem Innern. Was hattest du in diesem Paar dargestellt, Koke? Er wußte es nicht. Du würdest es nie wissen. Ein gutes Zeichen. Du hattest dein bestes Bild nicht nur mit den Händen, mit deinen Ideen, mit deiner Phantasie, mit deinem alten handwerklichen Können gemalt. Sondern auch mit den dunklen Kräften, die aus der Tiefe der Seele kamen, mit deinen aufflammenden Leidenschaften, dem Furor deiner Instinkte, mit jenen Trieben, die wie gewaltsam in die außergewöhnlichen Bilder einbrachen. Die Bilder, die niemals sterben würden, Koke. Wie die Olympia von Manet.
Lange Zeit stand er noch versunken in den Anblick seines Bildes und versuchte, es ganz und gar zu begreifen. Als er aus dem Atelier herunterkam, hatte Pau’ura das Abendessen zubereitet und erwartete ihn unten, in dem nach zwei Seiten hin offenen Raum, der als Eßzimmer diente. Sie hielt Emile in den Armen, und der Junge – für den du nie die Zärtlichkeit empfinden konntest, die seine kleine, kurz nach der Geburt gestorbene Schwester dir eingeflößt hatte – lag zwar mit weit geöffneten Augen da, blieb jedoch stumm und völlig reglos. Ein Glück. Auf dem Tisch standen eine Schüssel mit Obst und ein Omelett; du hattest deiner vahine beigebracht, es so zuzubereiten, wie es dir schmeckte: leicht und weich, fast flüssig. Ganz in der Nähe war die Dünung des unsichtbaren Meeres zu hören.
»Der Chinese Teng hat uns also noch einmal Kredit gegeben«, freute er sich lächelnd. »Wie hast du ihn dazu gebracht?«
»Koke«, sagte sie nickend. »Chinese. Eier. Salz.«
Etwas Stilles, Sanftes, Kindliches lag in ihren Augen, daseinen Gegensatz bildete zu den erwachsenen Rundungen ihres Körpers.
»Wenn ich dich diese Nacht liebe, werde ich mich wirklich fühlen, als wäre ich von den Toten wiederauferstanden«, sagte er laut, während er sich an den Tisch setzte.
»Wirklich«, nickte Pau’ura und verzog das Gesicht.
XIII
Die Nonne Gutiérrez
Toulon, August 1844
Floras erster Eindruck von Toulon, wo sie im Morgengrauen des 29. Juli 1844 eintraf, hätte nicht schlimmer sein können: ›Eine Stadt von Militärs und Verbrechern. Hier werde ich nichts ausrichten können.‹ Was sie pessimistisch stimmte, war der Umstand, daß Toulon von der Schiffswerft lebte, auf der fünftausend Arbeiter der Stadt arbeiteten, vermischt mit Gefangenen, die zu Zwangsarbeit verurteilt waren. Noch dazu ließen ihr die Kolitis und die neuralgischen Schmerzen seit Marseille keine Ruhe.
In Toulon wurde sie von bürgerlichen Saintsimonisten empfangen, die sehr modern waren, wenn sie von Technik, wissenschaftlichem Fortschritt und industrieller Produktion sprachen, aber voll Furcht, Floras Ausfälle könnten ihnen Probleme mit den Behörden einhandeln. Ihr Anführer, ein geckenhafter Hauptmann namens Joseph Corrèze, ermüdete sie mit Ratschlägen, die sie zu Vorsicht und Mäßigung ermahnten.
»Wenn es darum ginge, vorsichtig und maßvoll zu sein, hätte ich diese Reise nicht unternommen«, wies Flora ihn zurecht. »Dafür sind Sie da. Ich bin
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