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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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gekommen, um eine Revolution zu machen, und werde einige Wahrheiten sagen müssen, anders geht es nicht. Wenn das die Obrigkeit ärgert, wird mich das um so mehr bei den Arbeitern empfehlen.«
    Die Obrigkeit ärgerte sich in der Tat, noch bevor Flora in der Öffentlichkeit den Mund aufgetan hatte. Am Tag nach ihrer Ankunft erschien der Polizeikommissar von Toulon, ein bärtiger, nach Lavendel duftender Mann um die Fünfzig, in ihrem Hotel und befragte sie eine halbe Stunde lang über ihre Absichten in der Stadt. Jeder Akt,der die öffentliche Ordnung störe, werde energisch bestraft, warnte er sie. Und Stunden später erhielt sie eine Vorladung des Königlichen Prokurators, sich in seinen Amtsräumen einzufinden.
    »Sagen Sie Ihrem Vorgesetzten, daß ich nicht kommen werde«, entfuhr es Madame-la-Colère empört. »Wenn ich ein Verbrechen begangen habe, dann soll er mich festnehmen lassen. Aber wenn er mich einschüchtern und meine Zeit vergeuden will, dann wird ihm das nicht gelingen.«
    Der Amtsdiener, ein junger Mann mit rücksichtsvollen Manieren, schaute sie perplex und beunruhigt an, als könnte diese Frau, die laut auf ihn einredete und Millimeter vor seiner Nase mit einem drohenden Zeigefinger herumfuchtelte, zum körperlichen Angriff übergehen. Genauso verblüfft, verwirrt und erschrocken hatte dich vor zehn Jahren im Familienstammsitz in der Calle Santo Domingo, in Arequipa, dein Onkel Don Pío Tristán angeschaut, Florita, an dem Morgen kurz nach der ersten Begegnung, als ihr endlich das heikle Thema des Erbes ansprechen konntet. Don Pío, ein kleiner, grauhaariger, nicht sehr kräftiger Herr mit blauen Augen, elegant und redegewandt, hatte seine Argumentation sorgfältig vorbereitet. Nach einer freundlichen Einleitung, in der er dich mit lateinischen Brocken und spitzfindigen Gesetzeszitaten überhäufte, teilte er dir mit, daß du als Tochter von Eltern, deren Verbindung, wie du in einem Brief an ihn eingeräumt hattest, jeder nachweisbaren Legalität entbehrte, nicht beanspruchen konntest, auch nur einen Centavo des Erbes seines geliebten Bruders Mariano zu erhalten.
    Don Pío hatte drei Monate auf sich warten lassen, bevor er von seinen Zuckerplantagen in Camaná zurückgekehrt war, als fürchtete er sich vor der Begegnung mit seiner französischen Nichte. Es rührte dich zu Tränen, den jüngeren Bruder deines Vaters kennenzulernen, der diesem wie aus dem Gesicht geschnitten war. Du warst noch immer sentimental, Andalusierin. Du umarmtest deinen Onkel bebend, sagtest ihm leise, du wollest ihn lieben und ersolle dich lieben; du warst glücklich, deine väterliche Familie zurückzugewinnen, durch sie eine Wärme und Sicherheit zu finden, die du seit deiner Kindheit im Haus in Vaugirard nicht gekannt hattest. Du sagtest es und du fühltest es, Florita! Und der Onkel Tristán war ebenfalls bewegt, wie es schien; er umarmte dich und murmelte, die blauen Augen feucht vor Rührung:
    »Mein Gott, du bist ja das lebendige Abbild meines Bruders, Töchterchen.«
    In den folgenden Tagen überschüttete der kleine Alte – mit seinen vierundsechzig Jahren ein bestens erhaltener Mann und mit dreihunderttausend Francs Einkommen der reichste Reiche von Arequipa – seine Nichte mit Aufmerksamkeiten und Zuneigung. Doch als er sich schließlich bereit fand, allein mit ihr zu sprechen, und Flora ihm ihr Anliegen vortrug, als eheliche Tochter Don Marianos anerkannt zu werden und als solche eine Rente von fünftausend Francs vom Erbe ihrer Großmutter und ihres Vaters zu erhalten, verwandelte Don Pío sich in ein eisiges, juristisches Wesen, in den unbeugsamen Verteidiger der gesetzlichen Norm: Die – heiligen – Gesetze mußten Vorrang haben vor den Gefühlen; andernfalls gäbe es keine Zivilisation. Nach dem Gesetz stehe Flora nichts zu; wenn sie ihm nicht glaube, dann solle sie sich mit Richtern und Anwälten beraten. Don Pío habe es bereits getan und wisse, wovon er spreche.
    Daraufhin war Flora vor Wut explodiert, so wie jetzt in Toulon, wo sie den jungen Amtsdiener dazu gebracht hatte, blaß, fast fluchtartig das Weite zu suchen. Undankbar, niederträchtig, geizig – so lohne er die selbstlose Fürsorge Don Marianos, der sich in Frankreich um ihn gekümmert, ihn beschützt und erzogen hatte? Indem er seine hilflose Tochter mißhandele, ihre Rechte nicht anerkenne, sie zur Armut verurteile, er, ein steinreicher Mann? Flora erhob die Stimme so laut, daß Don Pío, kreidebleich, sich in einen Sessel fallen ließ.

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