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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Nervosität, geistiger Zerrüttung. Er wirkte wie ein Liebender, der verweifelt ist, weil der geliebte Mensch ihn verlassen wird. Er bat dich, flehte dich mit Tränen in den Augen und mit gebrochener Stimme an, das ganze Jahr bei ihm zu bleiben, oder er richtete tagelang nicht das Wort an dich, schaute dich voll Bitterkeit und Haß an, als hättest du ihm einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zugefügt. Manchmal fühltest du grenzenloses Mitleid mit diesem hilflosen, der Welt wehrlos ausgelieferten Wesen, das sich an dich klammerte, weil es dich als stark, als Kämpfer empfand. Doch andere Male reagiertest du empört: Hattest du nicht Probleme genug, um dir nicht auch noch die des verrückten Holländers aufzuladen?
    Die Dinge überstürzten sich einige Tage vor Weihnachten 1888. Paul erwachte plötzlich in seinem Zimmer im Gelben Haus mit einem Gefühl von Bedrückung. Im schwachen Licht, das durch das Fenster drang, erkannte er die Gestalt Vincents, der am Fuß des Bettes stand und ihn beobachtete. Er richtete sich erschrocken auf: »Was ist, Vincent?« Ohne ein Wort zu sagen, verließ sein Freund das Zimmer wie ein Schatten. Am nächsten Tag schwor er ihm, er könne sich nicht erinnern, sein Zimmer betreten zu haben;vielleicht sei es im Schlaf geschehen. Zwei Tage später, am Vorabend von Weihnachten, verkündete Paul ihm im Café an der Place du Forum, daß er zu seinem großen Bedauern abreisen müsse. Familienangelegenheiten erforderten seine Anwesenheit in Paris. Er werde in einigen Tagen fortgehen und, wenn alles gutgehe, vielleicht irgendwann wiederkommen und erneut eine gewisse Zeit mit ihm verbringen. Vincent hörte ihm stumm zu und nickte ab und zu mit übertriebenen Kopfbewegungen. Sie tranken eine ganze Weile, ohne zu sprechen. Plötzlich griff der Holländer nach seinem halbleeren Glas und warf es ihm wütend ins Gesicht. Paul gelang es, ihm auszuweichen. Er stand auf, lief mit großen Schritten zum Gelben Haus, packte zwei oder drei lebensnotwendige Dinge zusammen, und als er hinausging, traf er auf Vincent, der gerade hereinkam. Er sagte ihm, er gehe in ein Hotel und komme morgen, um seine übrigen Sachen zu holen. Er sprach ohne Groll:
    »Ich mache es für uns beide, Vincent. Dieses Glas könnte mir das nächste Mal, wenn du es nach mir wirfst, das Gesicht zerschneiden. Und ich weiß nicht, ob ich mich dann, wie heute abend, beherrschen werde. Oder ob ich mich auf dich stürzen und dir den Hals umdrehen werde. Unsere Freundschaft darf nicht so enden.«
    Leichenblaß, mit geröteten Augen, betrachtete Vincent ihn starr, ohne etwas zu sagen. Seit einiger Zeit war er darauf verfallen, sich wie ein Rekrut oder wie ein Bonze den Schädel zu rasieren, und wenn Traurigkeit oder Wut ihn wie jetzt überfielen, schien auch sein Schädel genau wie seine Schläfen und sein Kinn zu pochen.
    Paul ging, und – du konntest dich genau daran erinnern – auf der Straße drang ihm die Winterkälte in die Knochen. Auf seinem Weg durch die ummauerte Stadt hörte er, wie in einigen Häusern die Familien Weihnachtslieder sangen. Er ging in Richtung Bahnhof, zu einem bescheidenen Hotel, dessen Besitzerin er kannte. Als er die Place Victor Hugo überquerte, vernahm er Schritte dicht hinter sich. Erdrehte sich um, mit einer bösen Vorahnung, und in der Tat, wenige Meter entfernt, mit einem Rasiermesser in der Hand und barfuß, betrachtete Vincent ihn mit einem niederschmetternden Blick aus schrecklichen Augen.
    »Was ist? Was bedeutet das?« rief er ihm zu.
    Der Holländer machte kehrt und lief davon. War es falsch von dir gewesen, Paul, daß du nicht sofort die Gendarmen über den Zustand deines Freundes informiert hattest? Ja, ohne Zweifel. Doch wie zum Teufel hättest du ahnen können, daß der arme Vincent sich nach diesem gescheiterten Versuch, dich zu erstechen, das halbe linke Ohr abschneiden und das blutige Stück Fleisch, eingewickelt in Zeitungspapier, zu Rachel, der kleinen dürren Hure von Madame Virginie, tragen würde? Um sich dann, als wäre weiter nichts geschehen, in sein eigenes Bett zu legen, den Kopf in Handtücher gewickelt, die du am nächsten Morgen, als du das von Polizisten und Neugierigen umringte Gelbe Haus betratest, sehen solltest, blutgetränkt wie die Laken, die Wände, die Bilder? Es war, als hätte der verrückte Holländer sich nicht nur das Ohr abgeschnitten, sondern darüber hinaus in einem barbarischen Ritual mit seinem Blut den gesamten Schauplatz seiner Verstümmelung getauft. Und

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