Das Paradies ist anderswo
jetzt gab dir dieser Abschaum, gaben dir diese Pariser Stutzer die Schuld an Vincents Tragödie. Denn seit der Holländer diesen ungeheuerlichen Akt begangen hatte, kam er nicht mehr auf die Beine. Zuerst brachte man ihn im Hospital in Arles unter; dann, fast ein Jahr lang, im Sanatorium in Saint-Rémy und schließlich, für den letzten Monat seines Lebens, in dem kleinen Dorf Auvers-sur-Oise, wo er sich am Ende diesen schlecht gezielten Schuß in den Bauch verpaßte, der ihn einen ganzen Tag lang unter grauenhaften Schmerzen mit dem Tod ringen ließ, bevor er starb. Jetzt hatten die Pariser Müßiggänger, die ihm zu Lebzeiten niemals ein Bild abgekauft hatten, post mortem verkündet, daß Vincent ein Genie war. Und daß du, weil du ihn in jener Weihnachtsnacht nicht gerettet hattest, sein Henker und Totengräber warst. Lumpenpack!
Würden sie nach deinem Tod entdecken, daß auch du ein Genie warst, Paul? Würden deine Bilder die hohen Preise erzielen, zu denen sich jetzt die des verrückten Holländers verkauften? Wohl nicht. Im übrigen war es dir auch nicht mehr so wichtig wie früher, anerkannt, berühmt, ein unsterblicher Künstler zu sein. Das würde nicht geschehen. Atuona war zu weit von Paris entfernt, als daß diese oberflächlichen Geister sich dort, wo über Ansehen und künstlerische Moden entschieden wurde, für dein Schaffen hätten interessieren können. Was dich jetzt wie eine Obsession beschäftigte, war nicht die Malerei, sondern die unaussprechliche Krankheit, die dich im vierten Monat deines Aufenthalts in Hiva Oa erneut in grausamer Weise attackierte.
Die Schwären bedeckten seine Beine und verschmutzten die Verbände so rasch, daß er sich am Ende nur schwer aufraffen konnte, sie zu wechseln. Er mußte es selbst tun, weil Vaeoho sich angeekelt weigerte und ihm drohte, ihn zu verlassen, wenn er sie zwingen sollte, ihn zu pflegen. Er behielt die schmutzigen Verbände zwei oder drei Tage an; sie rochen übel und waren von Fliegen bedeckt, die zu verscheuchen er ebenfalls müde wurde. Doktor Buisson, Leiter der Krankenstation von Hiva Oa, den er in Papeete kennengelernt hatte, gab ihm Morphiumspritzen und Laudanum. Das dämpfte seine Schmerzen, wenn es ihn auch in einen idiotischen schlafwandlerischen Zustand versetzte, und milderte die deutliche Ahnung einer rapiden Verschlechterung seines Geisteszustands. Würdest du wie der verrückte Holländer enden, Paul? Im Juni 1902 konnte er kaum gehen aufgrund der Schmerzen in den Beinen. Ihm blieb nur noch wenig Geld vom Verkauf seines Hauses in Punaauia. Er steckte seine letzten Ersparnisse in den Kauf eines kleinen, von einem Pony gezogenen Wagens, mit dem er jeden Nachmittag in einem grünen Hemd und einem blauen Pareo, mit seiner Pariser Mütze und einem neuen Holzstock, in den er – wieder einmal – einen erigierten Phallus als Griff geschnitzt hatte, nach einem Umwegüber die protestantische Mission und die schönen Tamarindenbäume vor dem Haus Pastor Verniers zur Bucht der Verräter fuhr. Zu dieser Stunde war sie immer voller Jungen und Mädchen, die im Meer badeten oder nackt auf den kleinen Wildpferden ritten, die wiehernd den Wellen trotzten. Vor der Bucht nahm sich die schmale unbewohnte Insel Hanakee wie ein schlafender Wal aus, eines dieser großen Tiere, wie sie früher die aus Nordamerika kommenden Walfangschiffe gesucht hatten, vor denen die Bewohner Hiva Oas noch immer panische Angst hatten. Weil, wie sie erzählten, die Besatzung dieser Schiffe die Eingeborenen betrunken zu machen pflegte, um sie dann zu entführen und als Sklaven mitzunehmen. Mit einem dieser Walfangschiffe war es zu dem Vorfall gekommen, dem die Bucht ihren schimpflichen Namen verdankte. Der Entführungen überdrüssig, hatten die Bewohner Hiva Oas die Besatzung eines dieser Schiffe mit Festen und Tänzen empfangen und sie mit rohem Fisch und wildem Schwein bewirtet. Und ihnen allen mitten beim Feiern die Kehle durchgeschnitten. »Gebt zu, daß ihr sie aufgegessen habt«, rief Koke jedesmal begeistert, wenn er diese Geschichte hörte. »Bravo! Sehr gut! Das habt ihr gut gemacht!« Kurz bevor die Sonne unterging, kehrte Koke zum Haus der Wonnen zurück, nach einem Umweg über die einzige Straße Atuonas. Er zügelte das Pony und fuhr sie ganz langsam hinunter, vom Schiffsanlegeplatz bis zur Pension des Maori-Chinesen Matikana, und grüßte dabei alle feierlich, obwohl seine Augen die meisten nicht mehr wirklich erkennen konnten.
Bei seiner Ankunft hatten ihn die
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