Das Paradies ist anderswo
in gewissen Zeichnungen verborgen war – den ältesten, ihm zufolge. Einige hatten den Zweck, die Krieger bei den Kämpfen zu schützen, andere schenkten Kraft, um den Ränken der bösenGeister zu widerstehen, wieder andere garantierten die Reinheit der Seele.
Der Hexer erschien am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, im Haus der Wonnen. Koke erwartete ihn im Atelier. Der Himmel war wolkenlos in der Umgebung von Atuona, doch am Meereshorizont, zur unbewohnten Insel der Schafe hin, hatten sich dunkle Wolken zusammengeballt, und rötliche, sich schlängelnde Blitze kündeten ein Unwetter an. Als er Haapuani so plaziert hatte, daß das zunehmende Licht ihn erhellen konnte, krampfte sich sein Herz zusammen. Was für ein Unglück, Koke! Du konntest kaum mehr als eine unbestimmte Form erkennen, die an den Rändern verschwamm, und Flecken verschiedener Färbungen und Stärke. Das waren jetzt die Farben für deine Augen: diffuse Kleckse, Nebelflecken. War der Versuch nicht vergeblich, Koke?
»Nein, verdammtnochmal, nein«, murmelte er und näherte sich dicht dem Hexer, als wollte er ihn küssen oder beißen. »Auch wenn ich völlig erblinde oder mich die Wut umbringt, ich werde dich malen, Haapuani.«
»Das beste ist, die Ruhe zu bewahren, Koke«, riet ihm der Maori. »Da du so erpicht darauf bist, zu erfahren, was die Marquesaner denken – hier hast du unsere wichtigste Überzeugung: niemals wütend werden, außer vor dem Feind.«
Tohotama, die irgendwo steckte – du hattest sie nicht kommen hören –, ließ ein Kichern vernehmen, als wäre das alles ein Spiel. Auch Mette hatte diese irritierende Angewohnheit: wichtige Angelegenheiten zu banalisieren, indem sie einen Scherz machte und ein lautes Lachen vom Stapel ließ. Der dänische Maler Philipsen hatte sich damals sehr anständig dir gegenüber verhalten, wenn sie auch keine Freunde wurden. Nach jenem Besuch im Haus der Norregada 51, um deine Bilder zu sehen, ließ er seine Beziehungen spielen und erreichte, daß eine Gesellschaft der Kunstfreunde Dänemarks eine Ausstellung deiner Bilder veranstaltete. Sie wurde am 1. Mai 1884 mit spärlichem,wenn auch vornehmem Publikum eröffnet. Herren und Damen, aufmerksam und feierlich, schienen sich für deine Bilder zu interessieren und stellten dir in affektiertem Französisch Fragen über sie. Doch niemand kaufte ein Bild, es erschien weder eine positive noch eine negative Kritik in der Kopenhagener Presse, und nach fünf Tagen wurde die Ausstellung geschlossen. Du solltest später damit prahlen, die konservativen akademischen Behörden hätten sie schließen lassen, empört über deine ästhetischen Kühnheiten. Doch dem war nicht so. In Wahrheit endete deine einzige Ausstellung während deiner Zeit in Kopenhagen so rasch, weil es an Publikum fehlte und sie ein kommerzielles Fiasko war.
Das Schlimmste war jedoch nicht deine Enttäuschung, sondern die Empörung, mit der Mettes Familie auf diesen Mißerfolg reagierte. Wie! Dieser extravagante Bohemien gab seine Position und seine respektable Arbeit als Börsenmakler im Namen der Kunst auf, und dann kam eine solche Malerei dabei heraus? Gräfin Moltke ließ wissen, sie werde nicht länger für Emil, den ältesten Sohn der Familie Gauguin, die Schule bezahlen, ein karitatives Werk, das sie vor sechs Monaten übernommen hatte, wenn diese Person mit ihrer grotesken, weibischen Aufmachung, diese Karikatur einer Rothaut, weiter in Kopenhagen bliebe. Und die Wikingerin wagte dir blaß und unter Tränen zu sagen, die jungen Diplomaten, denen sie Französisch beibrachte, hätten ihr gedroht, sich einen anderen Lehrer zu suchen, wenn du nicht gehen solltest. Dann müßten sie und die Kinder Hungers sterben. Sie verjagten dich aus Kopenhagen wie einen Hund, Koke! Dir blieb nichts anderes übrig, als mit dem Zug, in einem Dritteklasseabteil, nach Paris zurückzukehren, gemeinsam mit dem kleinen, sechsjährigen Clovis, damit Mette in ihrer Not, den Rest der Familie zu ernähren, ein Maul weniger stopfen mußte. Die Trennung, Anfang Juni 1885, war ein Meisterwerk der Heuchelei. Ihr tatet, als wäre sie vorübergehend, durch die Umstände erforderlich, und sagtet euch, daß ihr wieder zusammenkommenwürdet, sobald die Dinge sich gebessert hätten. Doch im Grunde wußtest du nur zu gut und Mette wohl ebenfalls, daß die Trennung lange, vielleicht endgültig sein würde. Nicht wahr, Koke? Nun ja, bis zu einem gewissen Grad. Denn obwohl ihr euch in diesen achtzehn Jahren nur einmal
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