Das Paradies ist anderswo
Gefühl, mit dieser herzzerreißenden Traurigkeit, die dich wochenund monatelang zu Beginn deines zweiten Aufenthalts auf Tahiti begleitete? Das Merkwürdige war nicht, daß er an seine schon so lange tote Mutter dachte, sondern daß seine Erinnerung durchtränkt war von Kummer und Schmerz.
Er hatte vom Tod Aline Chazals, seiner verwitweten Mutter, 1867 – achtundzwanzig Jahre war es her, Paul! –, in einem indischen Hafen erfahren, während eines Zwischenstops des Handelsschiffes Chili , auf dem er als Steuermannsgehilfe fuhr. Aline war im weit entfernten Paris mit einundvierzig Jahren gestorben, im gleichen Alter wie die Großmutter Flora. Damals hattest du nicht diesen reißenden Schmerz gefühlt wie jetzt. »Tja«, wiederholtest du mit verlegenem Gesicht, als du die Beileidsbekundungen der Offiziere und Matrosen der Chili entgegennahmst. »Wir müssen alle sterben. Heute meine Mutter. Morgen wir.«
Hattest du sie je geliebt, Paul? Du liebtest sie nicht, alssie starb, das stand fest. Aber als Kind, in Lima, bei deinen Urgroßonkel Don Pío Tristán, hattest du sie sehr geliebt. Die schöne, anmutige junge Witwe in dem großen Haus in San Marcelo, im Herzen Limas, wo sie wie die Könige lebten, gekleidet wie eine peruanische Dame, den zierlichen Körper in eine große, mit Silberfäden bestickte Mantille gehüllt, mit der sie nach Art der tapadas genannten Frauen Limas den Kopf und das halbe Gesicht bedeckte und nur ein Auge freiließ, gehörte zu den deutlichsten Erinnerungen deiner Kindheit. Wie stolz fühlten sich Paul und seine kleine Schwester Marie Fernande, wenn es im riesigen Familienclan der Familie Tristán und der Familie Echenique über Aline Chazal, verwitwete Gauguin, hieß: »Wie hübsch!« »Bildschön, eine Erscheinung.«
Wo mochte das Porträt sein, das du 1888 aus der Erinnerung und nach der einzigen Photographie deiner Mutter gemalt hattest, die in deinem Besitz war, verkramt in der Reisetruhe mit deinen bunten Habseligkeiten? Es wurde nie verkauft, soviel du wußtest. Hatte es vielleicht Mette in Kopenhagen? Du solltest sie im nächsten Brief danach fragen. Oder befand es sich unter den Bildern, die Daniel oder dem guten Schuff gehörten? Du würdest sie bitten, es dir zu schicken. Du erinnertest dich in allen Einzelheiten an das Bild: ein gelber, leicht grünlicher Hintergrund, wie auf russischen Ikonen, eine Farbe, die das schöne, lange, schwarze Haar Aline Gauguins zur Geltung brachte. Es fiel ihr in einer anmutigen Wellenlinie auf die Schultern herab und wurde im Nacken durch ein violettes Band zusammengehalten, das zu einer japanischen Blume gebunden war. Das Haar einer echten Andalusierin, Paul. Du verwandtest deine ganze Mühe auf ihre Augen, damit sie so erschienen, wie du sie im Gedächtnis bewahrtest: groß, schwarz, neugierig, ein bißchen schüchtern und ziemlich traurig. Ihre sehr weiße Haut rötete sich an den Wangen, wenn jemand das Wort an sie richtete oder sie einen Raum betrat, in dem Leute waren, die sie nicht kannte. Schüchternheit und eine unauffällige Beharrlichkeit waren diedeutlichsten Züge ihrer Persönlichkeit, diese Fähigkeit, stumm und ohne Protest zu leiden, diese stoische Haltung, die, wie sie selbst dir erzählte, die Großmutter Flora, Madame-la-Colère, immer in Harnisch brachte. Du warst dir ganz sicher, daß dein Porträt von Aline Gauguin all das zeigte und die lange Tragödie des Lebens deiner Mutter durchscheinen ließ. Du mußtest herausfinden, wo es sich befand, und es zurückholen, Paul. Es würde dir Gesellschaft leisten hier in Punaauia, und du würdest dich nicht mehr so allein fühlen mit diesen offenen Wunden an den Beinen und dem Knöchel, den die dämlichen Ärzte in der Bretagne dir übel zugerichtet hatten.
Warum hattest du dieses Porträt im Dezember 1888 gemalt? Weil du aus dem Mund von Gustave Arosa beim letzten gescheiterten Versuch einer Annäherung zwischen euch beiden von jenem widerwärtigen Gerichtsprozeß erfahren hattest. Eine Enthüllung, die dich postum mit deiner Mutter versöhnte; nicht mit deinem Vormund, wohl aber mit ihr. Versöhnte sie dich wirklich mit ihr, Paul? Nein. Gustave Arosa erlaubte dir, sämtliche Unterlagen des Prozesses zu lesen, denn er glaubte, der geteilte Schmerz würde euch näherbringen, doch verroht, wie du warst, konnte das Wissen um den Leidensweg deiner Mutter als Kind dich nicht von dem bitteren Groll befreien, der in deinem Herzen nagte, seit Aline dich nach der Rückkehr aus Lima, nachdem
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