Das Paradies ist anderswo
Punaauia schon verlassen und lebte in Papeete. Er hatte eine Anstellung als Hilfszeichner im Bauamt der Kolonialverwaltung gefunden. Er verdiente hundertfünfzig Francs. Das reichte für ein bescheidenes Leben. Er lief nicht mehr halbnackt herum, nur mit einem Pareo bekleidet, sondern kleidete sich wie die Beamten auf westliche Art und trug Schuhe. Pau’ura hatte ihn verlassen – ohne ein Wort zu sagen, verschwand sie eines schönen Tages mit ihren wenigen persönlichen Habseligkeiten –, und er, deprimiert über ihren Fortgang und über die Nachricht vom Tod seiner Tochter Aline in Kopenhagen, der ihn zunehmend beunruhigte, hatte das Haus in Punaauia verkauft und vor einer Gruppe von Freunden öffentlich geschworen, niemals wieder auch nur ein Strichmännchen zu malen oder irgendeine Figur herzustellen, weder aus einem Fetzen Papier noch aus Brotkrume. Fortan würde er nichts weiter tun, als überleben, ohne irgendwelche Pläne zu schmieden. Wer nicht wußte, ob er es ernst meinte oder im Alkoholrausch faselte, und ihn fragte, warum er eine so radikale Entscheidung getroffen habe, erhielt als Antwort, daß alles, was er nach Nevermore malen könnte, schlecht sein würde. Dieses Bild war sein Schwanengesang.
Nun begann eine Zeit in seinem Leben, in der sämtliche Bewohner Papeetes ihn beobachteten und sich fragten, wie lange die Agonie dieses lebenden Toten dauern würde, dersich auf der Schlußgeraden seiner Existenz zu befinden schien und alles tat, um seinen Tod zu beschleunigen. Er wohnte in einer Pension außerhalb der Stadt, wo Papeete in den Wald überging. Er verließ sie sehr früh am Morgen, in Richtung Bauamt; seiner Lahmheit wegen brauchte er für die Strecke doppelt so lange wie ein normal gehender Mann. Seine Arbeit war eher symbolisch – eine Gefälligkeit des Gouverneurs Gustave Gallet –, denn er machte die Pläne, die man ihn zeichnen hieß, so ungeschickt und lustlos, daß man sie neu anfertigen mußte. Niemand wies ihn darauf hin. Alle fürchteten seinen reizbaren Charakter, diese aggressiven Anwandlungen, die ihn jetzt nicht nur in betrunkenem, sondern auch in nüchternem Zustand überkamen.
Er aß fast nichts und magerte ab; violette Ringe lagen unter seinen Augen, und in seinem eingefallenen Gesicht wirkte seine gebrochene Nase noch größer und schiefer, wie bei einem dieser Götzen, die er früher gern aus Holz geschnitzt hatte und von denen er behauptete, sie seien die alten Götter des Pantheons der Maori.
Von seiner Arbeit ging er direkt zu den kleinen Hafenlokalen, die mittlerweile auf zwölf angewachsen waren. Er bewegte sich langsam auf dem Hafendamm vorwärts, dem Quai du Commerce, allein, hinkend, auf seinen Stock gestützt, mit deutlichen Zeichen körperlicher Qual im Gesicht, mürrisch, finster, ohne jemandes Gruß zu erwidern. Er, der während langer Zeiten ein sehr geselliges Leben mit Eingeborenen und Siedlern geführt hatte, wurde menschenscheu, unnahbar. An einem Tag wählte er diese Terrasse eines Lokals, am andern Tag eine andere. Er trank ein Glas Absinth oder Rum oder Wein oder ein Bier, und bald erlangten seine Augen das glasige Aussehen, seine Zunge die Schwere und seine Gesten die fahrige Langsamkeit der Gewohnheitstrinker.
Dann unterhielt er sich mit den Wirten, den Straßenhuren, den Vagabunden und Säufern der Umgebung oder mit Pierre Levergos, der aus Punaauia kam, um ihm Gesellschaftzu leisten, weil er sich seiner Einsamkeit erbarmte. Der ehemalige Soldat hielt es für einen Irrtum, zu glauben, Paul sei dem Tode nahe. In seinen Augen geschah etwas Schlimmeres mit ihm: Er war dabei, den Verstand zu verlieren, sein Kopf war ein einziges Durcheinander. Er sprach von seiner Tochter Aline, die mit zwanzig Jahren in Kopenhagen gestorben war, ohne daß er Abschied von ihr hatte nehmen können, und wetterte zugleich in der schlimmsten gott- und ruchlosen Weise gegen die katholische Religion. Er beschuldigte sie, die Ariori, die lokalen Götter, ausgelöscht zu haben, und die gesunden, freien, vorurteilslosen Sitten der Eingeborenen zu vergiften und zu verderben, indem sie ihnen die geistigen Vorurteile, Verbote und Laster aufzwang, denen Europa seinen gegenwärtigen Verfall verdankte. Sein Haß und seine Wut richteten sich gegen alles und jedes. An manchen Tagen konzentrierten sie sich auf die in Tahiti ansässigen Chinesen, die er beschuldigte, sich dieser Inseln bemächtigen zu wollen, um den Tahitianern und Siedlern den Garaus zu machen und das gelbe Reich
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