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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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auszuweiten. Oder er verwickelte sich in lange, unverständliche Selbstgespräche über die Notwendigkeit, das westliche Schönheitsideal der Kunst – Frau und Mann mit weißer Hautfarbe und harmonischen Proportionen, wie es die Griechen geschaffen hatten – durch die unharmonischen, asymmetrischen und ästhetisch kühnen Werte der primitiven Völker zu ersetzen, deren Schönheitsmuster origineller, vielfältiger und unreiner waren als die europäischen.
    Es war ihm egal, ob man ihm zuhörte; wenn jemand ihn mit einer Frage unterbrach, dann ignorierte er ihn oder brachte ihn mit einer Grobheit zum Schweigen. Er versank in seiner Welt, immer weniger zugänglich für die anderen. Schlimm waren seine Wutanfälle, bei denen er sich plötzlich mit irgendeinem gerade in Papeete angekommenen Seemann anlegte, oder Anstalten machte, einem Kunden, der zu seinem Pech seinen Blick erwiderte, einen Stuhl auf dem Kopf zu zertrümmern. In solchen Fällen schlepptendie Gendarmen ihn zum Polizeiposten und ließen ihn in einer Zelle ausnüchtern. Während die Einwohner ihn kannten und seinen Provokationen keine Beachtung schenkten, verhielt es sich anders mit den Seeleuten auf der Durchreise, die sich bisweilen mit ihm prügelten. Und jetzt war es Paul, der den kürzeren zog, mit blauen Flecken im Gesicht und zerschundenem Körper. Er war erst neunundvierzig Jahre alt, doch sein Körper war genauso verfallen wie sein Geist.
    Ein weiteres obsessives Thema Kokes war sein Umzug auf die Marquesas. Wer immer in diesen weitab gelegenen Kolonien gewesen war, deren nächste mehr als tausendfünfhundert Kilometer von Tahiti entfernt war, versuchte, ihn von der wirklichkeitsfernen Vorstellung abzubringen, die er sich von diesen Inseln machte, ließ es jedoch bald sein, wenn er merkte, daß er auf taube Ohren stieß. Pauls Kopf schien nicht mehr imstande zu sein, zwischen Phantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden. Er behauptete, daß alles, was katholische Priester und protestantische Pfarrer sowie französische Siedler und chinesische Händler auf Tahiti und auf den anderen Inseln des Archipels pervertiert und zerstört hatten, auf den Marquesas unversehrt, unberührt, rein und echt erhalten sei. Daß dort das Volk der Maori noch immer dasselbe wie früher sei, das stolze, freie, barbarische, kraftvolle primitive Volk, eins mit der Natur und mit den Göttern; daß es noch immer in der Unschuld seiner Nacktheit, seines Heidentums, seiner Feste und seiner Musik lebe, in der Unschuld der heiligen Riten, der kunstvollen Tätowierungen, der kollektiven sexuellen Rituale und des regenerierenden Kannibalismus. Das war es, was er suchte, seitdem er den bürgerlichen Panzer abgeschüttelt hatte, in dem er seit seiner Kindheit gefangen gewesen war; seit einem Vierteljahrhundert folgte er nun den Spuren dieser paradiesischen Welt, ohne sie zu finden. Er hatte sie in der traditionsreichen, katholischen Bretagne gesucht, die stolz war auf ihren Glauben und ihre Sitten, aber die malenden Touristen und die westliche Modernitäthatten sie längst befleckt. Er hatte sie auch nicht in Panama gefunden, weder auf Martinique noch hier, auf Tahiti, wo die europäische Kultur die primitive verdrängt und den Lebensnerv dieser höheren Zivilisation, von der nur noch elende Reste blieben, bereits tödlich getroffen hatte. Deshalb mußte er fortgehen. Sobald er ein wenig Geld beisammen hätte, würde er ein Schiff nach den Marquesas nehmen. Er würde seine westliche Kleidung, seine Gitarre und sein Akkordeon, seine Leinwände und seine Pinsel verbrennen. Er würde in die Wälder eindringen, bis er auf ein abgelegenes Dorf, sein künftiges Zuhause, stieße. Er würde lernen, die blutrünstigen Götter anzubeten, die den Trieben, Träumen, Wünschen und der Phantasie des Menschen Nahrung gaben und den Körper niemals dem Verstand opferten. Er würde die Kunst der Tätowierungen studieren und imstande sein, ihr labyrinthisches Zeichensystem zu beherrschen, das chiffrierte Wissen, in dem ihre reiche kulturelle Vergangenheit aufbewahrt war. Er würde lernen zu jagen, zu tanzen, in diesem elementaren Maori zu beten, das älter war als das Tahitianische, und er würde seinen Organismus erneuern, indem er das Fleisch seines Nächsten äße. »Ich werde mich nie in Reichweite deiner Zähne begeben, Koke«, sagte Pierre Levergos zu ihm, der einzige, dessen Scherze er duldete.
    Die Einwohner lachten hinter seinem Rücken über ihn. Sie erzählten sich seine verrückten Ein-

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