Das Paradies ist woanders! (German Edition)
man einmal von der Platzwunde absieht. Immerhin knapp zwei Zentimeter, das ist schon was. Wie ist das passiert? Hast du dich etwa wieder geprügelt? Oder bist du wirklich so ungeschickt, mit der Stirn gegen eine Wand zu fallen?“
Der Arzt sieht ihn jetzt fragend an, Joshua schüttelt kurz den Kopf.
„Keines von Beidem, Doktor. Ich habe das selbst getan, ich habe meinen Kopf gegen die Wand gehauen, bis es geblutet hat. Ich musste sie heute noch sehen ... und es ist mir, ehrlich gesagt, nichts besseres eingefallen. Immerhin brauchte ich einen sehr guten Grund, für einen Arztbesuch.“
Er sieht Doktor Rodriguez jetzt ebenfalls direkt an.
„Ich wurde gebeten, dem Kartell einen Gefallen zu tun, Doc. Ich denke nicht, dass ich das ablehnen kann. Aber ich weiß noch nicht, wann es dazu kommt, und auch nicht, um was es sich dabei handelt.“
Der Arzt nickt einmal kurz, er muss einen Moment nachdenken.
„Hör zu mein Junge. Egal was diese Männer von dir verlangen, du wirst dem wohl nicht wirklich ausweichen können. Ich werde das, was du mir anvertraut hast, weitergeben. Unsere Freunde werden auf dich aufpassen, das verspreche ich dir. Auch wenn du davon nichts merkst, José. Sie sind in deiner Nähe. Mehr kann ich dir dazu aber nicht sagen ...“
An dieser Stelle bricht er seinen Satz ab, es scheint fast so, als gäbe es da noch etwas, was er ihm gerne mitgeteilt hätte. Aber er sieht ihn statt dessen nur mit einem seltsamen, sehr nachdenklichen und etwas traurigen Blick, an. Joshua nickt. Er hat verstanden. Je weniger er weiß, desto weniger kann er verraten, sollten man ihn dazu zwingen. Er schluckt einmal schwer.
Der Arzt zieht jetzt wieder den Kittel aus, dann nimmt er seine Jacke und fasst Joshua sanft am Arm.
„Komm, mein Junge, ich sollte dich lieber zurückbringen. Nicht dass dich noch jemand vermisst.“
Einundzwanzig Uhr
Der darauffolgende Tag verläuft ereignislos. Joshua wundert sich ein wenig, dass er keine Nachricht erhält, keinen Hinweis darauf, dass irgendetwas passieren wird. Am Abend, nachdem sich die Jugendlichen gewaschen haben, stellen sie sich wieder in ordentlichen Zweierreihen auf, bereit, in ihren Schlafsaal zu gehen. Die Aufseher werfen nochmals einen prüfenden Blick auf ihre Gefangenen, dann gibt einer von ihnen die nötigen Anweisungen und sie setzen sich in Bewegung. Sie verlassen das Gebäude, in dem sich die Waschräume befinden, überqueren den Hof und betreten dann ihren Schlafsaal. Jeder der Jungen begibt sich sofort zu seinem Bett und bereitet sich auf die Nacht vor. Keiner spricht ein Wort, denn das ist ihnen untersagt. Joshua hat sich inzwischen so an diese Routine gewöhnt, dass er die nötigen Handgriffe ausführen kann, ohne darüber nachzudenken. Seine Gedanken sind in diesem Moment weit weg, an einem anderen Ort. Er ist so versunken darin, dass er es zunächst gar nicht bemerkt, als einer der Aufseher neben ihn tritt. Er schrickt ein wenig zusammen, als dieser sich plötzlich laut räuspert. Sofort nimmt er Haltung an, so, wie man es ihm beigebracht hat. Nur jetzt nicht noch Ärger bekommen. Er ist hundemüde und sein Kopf tut ihm weh, die starke Schwellung an der Stirn pocht. Aber der Mann, der ihm nun direkt gegenüber steht, sagt kein Wort, er streckt ihm nur seine rechte Hand entgegen, in der sich einen kleinen Zettel befindet. Als Joshua diesen an sich nimmt, dreht sich der Aufseher wortlos um und verlässt den Raum.
Er weiß nicht so recht, was er von der ganzen Sache halten soll, setzt sich auf sein Bett und entfaltet den Zettel, neugierig darauf, welche Mitteilung dieser wohl enthalten wird. Als er sieht, was dort geschrieben steht, wird er blass.
21.30 Uhr!
Nicht mehr und nicht weniger! Einundzwanzig Uhr dreißig! Er sieht zu der großen Uhr herüber, die über der Eingangstür des Schlafsaales hängt. Einundzwanzig Uhr siebzehn!
Nur noch dreizehn Minuten ... , zu wenig Zeit, den Doktor zu informieren, zu wenig Zeit um irgendjemanden zu informieren. Er schluckt einmal schwer, dann legt er sich für fünf Minuten auf sein Bett, immer die Zeiger der großen Uhr im Blick. Dreizehn Minuten!
Zweiundzwanzig Uhr
Er sitzt mit den drei Männern, die er aus dem Gefängnis kennt, in einem Auto, einem großen Van amerikanischer Bauart, und fährt über eine breite Straße in Richtung Stadt.
Noch immer begreift er nicht so recht, wie er überhaupt in dieses Auto gekommen ist, wie er das Gefängnis verlassen konnte. In seinem Kopf schwirren die Gedanken
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