Das Paradies
daß sie tot sein mußte. Sie war nicht nur eine Heilige, sondern auch eine Märtyrerin.
Als sie vom Gehweg auf die Straße traten, faßte Zacharias fürsorglich Tahia am Ellbogen. Er war ihr Cousin, und deshalb durfte er sich diese Freiheit herausnehmen, aber die Gefühle, die ihn bei der Berührung der warmen Haut unter dem Ärmel durchfluteten, waren alles andere als fürsorglich und verwandtschaftlich. Im Gegensatz zu Omar, der seine Cousine Jasmina erst seit zwei Jahren beachtete, liebte Zacharias Omars Schwester schon, solange er denken konnte. Er hatte sie bereits geliebt, als sie noch Kinder waren und im Garten spielten. Tahia erinnerte ihn an seine imaginäre Mutter. Sie war ein Vorbild muslimischer Tugend und Reinheit. Daß die inzwischen Siebzehnjährige ein Jahr älter als er war, störte ihn nicht. Sie war klein und zierlich, und trotz der achtjährigen Schulbildung in privaten Mädchenschulen war sie noch beglückend unschuldig und ahnungslos. Die große Welt bedeutete ihr nichts. Omar hatte nur eine schnelle und leidenschaftliche sexuelle Befriedigung im Sinn, während Zacharias’ Gedanken um Ehe und die reineren, eher geistigen Aspekte der Liebe kreisten. In seinen Absichten sah er sich vom Schicksal bestätigt, denn als Tahias Vetter war er nach islamischen Vorstellungen dazu auserkoren, sie zu heiraten. Während sie im glücklichen Übermut der Jugend durch die Menschenmenge schlenderten, dichtete Zacharias Verse, in denen er seine Geliebte verklärte:
»Tahia, wärst du doch schon meine Frau! Ströme des Glücks, die ich zu dir lenke, würden dich auf ihren zärtlichen Wellen tragen! Den Mond würde ich bitten, dir silberne Ketten zu schenken! Der Sonne würde ich sagen, dir einen goldenen Ring zu geben! Das grüne Gras unter deinen Sohlen wären Smaragde. Regentropfen, die dich berühren, würden sich in Perlen verwandeln. Geliebte, für dich würde ich Wunder wirken. Ja, Wunder, und noch mehr, viel mehr …«
Tahia hörte das Gedicht natürlich nicht. Sie lachte über eine komische Bemerkung Omars über die griesgrämigen Russen auf der Straße. Russen gehörten inzwischen zum Straßenbild, seit die Sowjets gekommen waren, um den Assuanstaudamm zu bauen. In den Geschäften von Kairo konnte man russische Waren kaufen, und nicht wenige Firmenschilder hatten zusätzlich kyrillische Aufschriften. Aber die Ägypter konnten sich mit diesen Menschen nicht anfreunden und fanden sie kalt und abweisend.
Zacharias begann, das Liebeslied
Ja lili ja aini
zu singen – »Du bist meine Augen« –, und die anderen stimmten ein. Sie berauschten sich an ihrer jugendlichen Kraft, während sie singend die Straße entlangliefen, andere Fußgänger zwangen, ihnen auszuweichen, schließlich atemlos stehenblieben, Schaufenster betrachteten und mit den Verkäufern von Jasmingirlanden um den Preis handelten. Die Straßen waren hell erleuchtet, und Musik drang aus den offenen Türen. Fellachinnen saßen in ihre schwarzen Melajas gehüllt auf dem Gehweg und rösteten Maiskolben über offenen Feuern, ein Zeichen, daß der Sommer bald beginnen würde. In die warme Luft mischte sich der Rauch der Kochfeuer, der Duft von Fleich und Fisch, die im Freien gegrillt wurden, und unvermutet die betäubenden Duftwolken blühender Bäume. Es war eine herrliche Zeit, um jung, lebensfroh und in Kairo zu sein.
Die vier erreichten den Platz der Befreiung. Auf der anderen Seite war früher die britische Kaserne gewesen, inzwischen stand dort das neue pharaonische Nil-Hilton. Jasmina bemerkte nicht, wie Omar besitzergreifend die Hand um ihren Ellbogen legte, denn sie dachte an die große Dahiba, die sie gerade im Film gesehen hatten. Ganz Ägypten verehrte Dahiba. Wie wundervoll mußte das Leben sein, wenn man so begabt und berühmt war!
Jasmina wußte, daß sie zum Tanzen geboren war. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie Tanzen bereits als kleines Mädchen einfach selbstverständlich für sie gewesen war. Sie hatte die Bewegungen der Frauen mühelos nachgeahmt, die auf Ummas Festen den Beledi tanzten. Weil Umma und Ibrahim darin übereinstimmten, daß seine älteste Tochter besonders talentiert war, schickten sie Jasmina in den Ballettunterricht. Damals war sie acht Jahre alt. Heute, fast zehn Jahre später, war Jasmina Raschid die beste Schülerin der Akademie, und man sprach von einem möglichen Engagement am National-Ballett. Aber Jasmina wollte keine Ballettänzerin werden. Sie hatte andere Pläne,
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