Das Paradies
herablächelte. Als die vier jungen Raschids das Kairo-Roxy verließen und sich lachend und ausgelassen über den Film unterhielten, beschäftigten jeden von ihnen geheime Gedanken. Der sechzehnjährige Zacharias versuchte, sich an die wunderbaren Liedertexte zu erinnern, die er gerade gehört hatte; die siebzehnjährige Tahia fand, eine romantische Liebe sei ohne Zweifel das Schönste auf der Welt; Jasmina sah sich in ihrem Beschluß bestärkt, eines Tages eine ebenso berühmte Tänzerin wie Dahiba zu werden; Omar überlegte, wie er eine Frau finden würde, mit der er schlafen konnte.
Als Omar im Vorbeigehen in einem Schaufenster sein Spiegelbild sah, wuchs sein Selbstbewußtsein. Omar wußte sehr wohl, daß er gut aussah. Der Kinderspeck war verschwunden, und er hatte inzwischen einen schlanken, sehnigen Körper; er besaß dunkle bohrende Augen und fein geschwungene Augenbrauen, die über der Nase zusammenwuchsen. Zur Zeit studierte er Maschinenbau an der Universität. Wenn er sein Examen bestanden und als Beamter eine Stellung hatte, und wenn man ihm das Erbe seines Vaters ausbezahlte, der bei einem Autorennen tödlich verunglückte, als Omar gerade drei Jahre alt war, dann, das wußte er, würde ihm in ganz Ägypten keine Frau widerstehen können.
Aber das lag alles in der Zukunft. Im Augenblick war er noch ein Student, wohnte mit seiner Mutter in der Paradies-Straße und brauchte das Geld seines Onkels Ibrahim. Welche Frau würde ihn auch nur eines Blickes würdigen?
Andererseits hatte seine muntere und attraktive Cousine Jasmina ihren Arm in seinen geschoben. Ihr Parfüm stieg ihm in die Nase, sie schüttelte übermütig die schwarzen Haare und sah ihn mit blitzenden honigbraunen Augen an. Im Gegensatz zu jeder anderen unverheirateten Ägypterin bestand bei Jasmina die Möglichkeit, daß sie nicht völlig unerreichbar für ihn war.
»Ich habe Hunger!« rief Jasmina, als sie die Kreuzung erreichten. »Kaufen wir uns doch etwas zum essen, bevor wir nach Hause gehen.« Die vier jungen Leute hakten sich unter – die zwei jungen Männer nahmen die Mädchen schützend in die Mitte – und liefen lachend über die Straße, denn dort verkauften Straßenhändler in Galabijas den hungrigen Kinobesuchern Kebabs, Eis und Früchte. Omar, seine Schwester und Jasmina entschieden sich für
Schwarma
-Brote – gebratenes, in hauchdünne Scheiben geschnittenes Lamm und Tomatenstücke in Fladenbrot. Zacharias wollte eine gefüllte Süßkartoffel und ein Glas Tamarindensaft. Er aß kein Fleisch, denn als Siebenjähriger hatte er ein erschreckendes Erlebnis. Am
Aid el-Adha
-Fest zum Gedenken an Abrahams Bereitschaft, seinen Sohn Isaak zu opfern, sah er, wie ein Metzger ein Lamm für das Fest schlachtete. Der Mann schlitzte dem Tier den Hals auf und ließ es ausbluten. Dann rief der Metzger: »Im Namen Gottes!« und blies Luft in den Tierleib, um das Fell vom Fleisch zu lösen. Zacharias sah mit wachsendem Entsetzen, wie das Lamm dicker und dicker wurde, während der Metzger es mit einem Stock bearbeitete, um die Luft gleichmäßig unter dem Fell zu verteilen. Der siebenjährige Junge fing an zu schreien, und seit dieser Zeit rührte er kein Fleisch mehr an.
Während sie aßen und versuchten, im Gedränge nicht vom Gehweg gestoßen zu werden, beunruhigte Zacharias etwas, das sie im Film gesehen hatten. Die »böse Nebenbuhlerin« war eine sittenlose geschiedene Frau gewesen – ein fester Bestandteil der meisten ägyptischen Filme. Zacharias mußte an seine Mutter denken, von der er noch immer nichts wußte, weil sein Vater es ablehnte, über sie zu sprechen. Zacharias wollte nicht glauben, daß seine Mutter der geschiedenen Frau in den Filmen glich. Schließlich war die alte Tante Zou Zou, die im vergangenen Jahr gestorben war, auch geschieden und für den Rest ihres Lebens eine fromme Frau gewesen.
Zacharias hatte eine genaue Vorstellung davon, welche Art Frau seine Mutter sein mußte, obwohl man über sie ebensowenig sprach wie über die verstoßene Tante, deren Photos aus den Familienalben entfernt worden waren. Seine Mutter war schön, fromm und sittsam wie die heilige Zeinab, deren Moschee die Familie einmal im Jahr an ihrem Gedenktag besuchte. Zacharias träumte oft davon, seine Mutter zu suchen, und malte sich die glückliche Wiederbegegnung aus. Omar hatte einmal boshaft zu ihm gesagt: »Wenn deine Mutter eine so fromme Frau ist, warum besucht sie dich dann nie?« Zacharias wußte darauf keine andere Antwort, als
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