Das Paradies
wieder aufgefrischt hatte und den Beruf erneut ausüben konnte, den er während seiner Zeit am Hof vernachlässigt hatte. Als er soweit war, nahm er sich diese kleine Wohnung. Sie bestand aus einem winzigen Wartezimmer, einem Untersuchungsraum, seinem Sprechzimmer und angrenzenden Privaträumen, wo er sich entspannen und zurückziehen konnte.
Zunächst war Ibrahims Praxis unbekannt, und er hatte nur wenige Patienten. Aber dann nahm sein Leben ironischerweise eine unerwartete Wendung: Er wurde ein Modearzt.
Ibrahim blickte auf die Scheinwerfer des Kairo-Roxy gegenüber und sah im Fensterglas die Frau, die hinter ihm das Geld vom Nachttisch nahm, das er dorthin gelegt hatte. Sie zählte es und schob die Scheine in den Pullover. Mit einem letzten Blick auf Ibrahim verschwand sie, und er war wieder allein.
Als Ibrahim sich verängstigt wieder in die Welt gewagt und unauffällig seine Praxis nicht weit vom Platz der Befreiung eröffnet hatte, hütete er seine Vergangenheit als ein Geheimnis. Niemand sollte etwas von seiner früheren Stellung am Hof erfahren. Aber irgendwie hatte es sich nach einer Weile doch herumgesprochen, und bald wußte man in Kairo, daß sich König Farouks Leibarzt als Privatarzt niedergelassen hatte. Aber das schadete seinem Ruf nicht, wie er zunächst geglaubt hatte; im Gegenteil, seine Vergangenheit machte ihn zu einer Berühmtheit. Die Offiziersfrauen, die die Wertgegenstände der alten Aristokratie kauften, kamen mit ihren Leiden zu dem ehemaligen königlichen Leibarzt. Dr. Ibrahim Raschid war ein sehr gefragter Mann.
Ibrahim war kein besonders guter oder geschickter Arzt, und er liebte auch die Medizin nicht. Er engagierte sich bei seinen ärztlichen Pflichten ebensowenig wie früher beim Medizinstudium. Damals hatte er sich auf diesen Beruf vorbereitet, weil auch sein Vater Arzt gewesen war. Nach dem Gefängnisaufenthalt hatte er sich wieder der Medizin zugewandt, weil sie seinem Leben eine Richtung gab.
Aus dem Kino strömten plötzlich die Menschen. Als Ibrahim die vier jungen Raschids in der Menge entdeckte, fiel ihm ein, daß Donnerstagabend ihr Kinotag war. Er beobachtete, wie sie sich lachend und redend untergehakt einen Weg durch die Menge bahnten, und er erinnerte sich an seine Jugend – das war lange her, lange vor dem Gefängnis, vor König Farouk. Damals war auch er so jung, glücklich und optimistisch gewesen wie diese vier jungen Leute: Nefissas hübsche Kinder, der eitle Omar und die zierliche Tahia, und seine bezaubernde Tochter Jasmina, die geborene Tänzerin. Selbst beim Gehen bewegte sie sich anmutiger und graziöser als die anderen. Er hielt Ausschau nach seinem Liebling Amira, aber dann erinnerte er sich, daß sie donnerstags gelegentlich freiwillig beim Roten Halbmond arbeitete.
Ibrahim sah natürlich auch Zacharias. Aber seine Augen verweilten nicht auf dem Jungen, der ihm so viel Unglück gebracht hatte. Zacharias, der uneheliche Sohn eines Fellachen, den Ibrahim in seinem maßlosen Stolz sein eigen nannte. Khadija hatte recht, Gott ließ sich nicht verspotten. Kein Tag verging, an dem Ibrahim nicht an das Unheil dachte, das er in der Nacht heraufbeschworen hatte, als er Zacharias adoptierte. Die schreckliche Wahrheit hatte er im Gefängnis in aller Klarheit erkannt, kurz bevor ihn die Wärter zu dem ersten Verhör holten. In dem blendenden Augenblick der Erkenntnis, in dem er sich selbst verabscheute, hatte Ibrahim seinen Irrtum erkannt. Aber in diesem Augenblick hatte er sich auch von Gott abgewandt.
Als die jungen Raschids in der Menge verschwunden waren, verließ er das Fenster und drückte die Zigarette aus. Er mußte sich auf Safeja Rageeb und ihre Gallensteine vorbereiten.
Amira kam atemlos in den großen Salon, wo sich die Familie zu Um Khalsoums monatlichem Konzert vor dem Radio versammelt hatte. »Ich bin leider spät dran!« rief sie, nahm den Schal ab und schüttelte die blonden Haare. Sie küßte zuerst Khadija und dann ihre Mutter, die fragte: »Bist du hungrig, Liebes? Du hast das Abendessen versäumt.«
»Wir haben uns Kebab gekauft, Mami«, erwiderte Amira und setzte sich zwischen Jasmina und Tahia auf das Sofa.
An jedem Donnerstagabend versammelten sich beide Geschlechter im Salon. Die Männer und Jungen saßen auf der einen Seite und die Frauen und Mädchen auf der anderen. Die neunzehn Mitglieder der Familie Raschid setzten sich mit Knabberzeug und Tee oder Kaffee vor das Radio. Khadijas Stieftochter Doreja wohnte nicht mehr im Haus.
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