Das Paradies
sie mich entlassen haben.«
»Es ist Gottes Wille, daß du wieder frei bist«, erwiderte sie mit Tränen in den Augen. Auch Ibrahim sollte nie etwas von der geheimen Absprache mit der Frau des Freien Offiziers erfahren. »Jetzt bist du zu Hause, und nur darauf kommt es an.«
»Mutter«, flüsterte er, »König Farouk kommt nie wieder zurück. Ägypten ist jetzt ein anderes Land. Wo werde ich hier meinen Platz finden? Was soll aus mir werden?«
»Auch das liegt in Gottes Hand. Dein Schicksal ist bereits bestimmt. Komm jetzt, setz dich und iß.« Sie führte ihn zu dem Ehrenplatz, der mit goldenem Brokat und rotem Samt bezogen war. Khadija mußte ihre Panik unterdrücken, als sie unter dem Stoff seines Anzugs den dünnen Arm spürte und an den gequälten und gepeinigten Ausdruck seiner Augen dachte. Sie wußte, man hatte ihn in diesem schrecklichen Gefängnis gefoltert; das hatte ihr Safeja Rageeb sagen können, aber mehr nicht. Khadija würde ihn natürlich nie danach fragen, und sie wußte, ihr Sohn würde nie darüber sprechen.
Ihre Aufgabe mußte es jetzt sein, seine Gesundheit und sein Glück wiederherzustellen. Sie mußte ihm helfen, seinen Platz in dem neuen Ägypten zu finden.
Alice blickte sich plötzlich um und fragte: »Wo ist Eddie?« Die Kinder sprangen auf und riefen: »Wir holen ihn. Er hat sicher verschlafen!« Die fünf rannten fröhlich aus dem Zimmer.
Sichtlich enttäuscht kamen sie kurz darauf zurück.
»Wir können Onkel Eddie nicht aufwecken«, sagte Zacharias. »Wir haben ihn geschüttelt und geschüttelt, aber er ist einfach nicht wachzukriegen!«
»Er hat sich an der Stirn verletzt«, sagte Jasmina, »hier«, sie deutete zwischen die Augen.
Khadija verließ den Salon, Alice und Nefissa folgten ihr.
Sie fanden Edward in einem Sessel. Er trug seinen blauen Blazer und eine weiße Hose; er war frisch rasiert, das Haar glatt zurückgekämmt und mit Pomade frisiert. Als sie zwischen den Augen das kleine runde Loch der Kugel sahen und den 38 er Revolver in seiner Hand, wußten sie, daß nicht der Auspuff des Wagens geknallt hatte, der Ibrahim nach Hause gebracht hatte. Der eine war in das Haus an der Paradies-Straße zurückgekehrt, und ein anderer war gegangen.
Alice entdeckte als erste das Blatt Papier mit Edwards letzten Worten. Sie las, als lese sie die Morgenzeitung, ohne Gefühle und ohne Realitätsbezug. Dort standen Sätze, die sie bis zum Ende ihres Lebens verfolgen würden.
»Hassan trifft keine Schuld. Ich habe ihn geliebt und geglaubt, daß er mich liebt. Jetzt weiß ich, daß ich das Werkzeug seiner Rache an dir war, liebe Schwester. Um dich zu verletzen, Alice, hat er mich vernichtet. Aber du mußt nicht um mich trauern. Mein Schicksal stand bereits am Tag meiner Ankunft hier fest. Ich habe England wegen meines Lasters verlassen. Ich wußte, wenn Vater etwas davon erfahren würde, dann wäre die Familie ruiniert. Ich kann nicht länger mit dieser Schande leben.«
Zum Schluß hatte er noch einen Satz für Nefissa geschrieben:
»Verzeih mir, wenn ich dich getäuscht habe.«
Alice war nicht bewußt, daß sie laut gelesen hatte. Als sie schwieg, registrierte sie die plötzliche Stille im Raum. Khadija nahm Alice den Brief aus der Hand und zündete ihn mit Edwards Feuerzeug an. Die schwarze Asche warf sie in den Papierkorb. Danach ließ sie sich von Nefissa die Revolverkugeln geben und verteilte sie auf dem Schreibtisch. Dazu stellte sie alles, was Edward zum Reinigen des Revolvers benutzt hätte.
Dann sagte sie zu Alice: »Hör zu, niemand weiß etwas davon. Ihr dürft keinem Menschen etwas sagen – nicht Ibrahim, nicht Hassan, niemandem. Habt ihr verstanden?«
Alice blickte auf ihren Bruder. »Aber was soll mit ihm …?«
»Wir werden sagen, es sei ein Unfall gewesen«, erwiderte Khadija und wies auf das Ledertuch und das Öl, das Nefissa gebracht hatte. »Er hat seinen Revolver gereinigt, und ein Schuß hat sich versehentlich gelöst. Das werden wir allen sagen. Nefissa, Alice, ihr müßt mir beide versprechen, daß wir das erzählen.«
Nefissa nickte wie betäubt, und Alice flüsterte: »Ja, Mutter Khadija.«
»So, jetzt können wir die Polizei holen.« Aber bevor sie das Zimmer verließen, blieb Khadija stehen und legte Edward sanft die Hand auf den Kopf. Sie schloß ihm die Augen und murmelte: »Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist SEIN Prophet.«
Und SEIN Fluch liegt auf diesem Haus.
9 . Kapitel
Während Omar Raschid die verführerische Tänzerin
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