Das Paradies
die nicht zuhörte, denn sie interessierte sich nicht für Politik. Er sah ihre schlanken weißen Hände und staunte, wie wunderbar weich und gepflegt sie waren, obwohl es in den vergangenen neuneinhalb Jahren keinen Tag gegeben hatte, an dem sie nicht ihre Beete in dem verwunschenen Garten bearbeitet hatte. Er sah, wie sie anmutig die Seiten ihres Katalogs umblätterte, und stellte sich vor, von ihr liebkost zu werden. Zu seiner Überraschung spürte er zum ersten Mal wieder Verlangen nach ihr, denn seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis hatte er kein. Interesse an seiner Frau gezeigt.
Und plötzlich kam ihm die Erleuchtung. Ihm wurde bewußt, daß er mit fünfundvierzig in der Blüte seines Lebens stand. Alice war erst sieben- unddreißig. Sie konnte noch einige Jahre lang Kinder bekommen. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Radio und staunte darüber, daß er bisher nicht daran gedacht hatte. Noch bestand die Möglichkeit, den Fehler der Adoption von Zacharias wiedergutzumachen. Er konnte noch immer einen Sohn zeugen. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr besserte sich seine Laune. Ibrahim lächelte über die Ironie, daß Nassers Plädoyer für eine Geburtenkontrolle bei ihm gerade die Vorstellung ausgelöst hatte, endlich für mehr Nachwuchs zu sorgen.
Von den anderen im Salon, die die Rede des Präsidenten hörten, lauschte auch Tahia wie gebannt auf jedes Wort. Tahia fand, Gamal Nasser sah sehr gut aus, und ihr gefiel es, daß seine Frau ebenfalls Tahia hieß. Khadija neben ihr dachte: Die Geburtenkontrolle sollte allen Frauen freigestellt sein, und alle Frauen sollten sie nach eigenem Willen praktizieren dürfen. Aber andere im Raum hörten dem Präsidenten überhaupt nicht zu. Zacharias verfaßte in Gedanken wieder ein Gedicht für Tahia, und Jasmina hatte gerade den Entschluß gefaßt, eine Möglichkeit zu finden, um die große Dahiba kennenzulernen.
Während Omar Nassers Rede über die Bevölkerungsexplosion hörte, wuchs seine Frustration. So viele Babys wurden geboren, und für keines war Omar Raschid verantwortlich! Er blickte zu Jasmina hinüber. Sie hatte die Schuhe abgestreift, und er sah die rot lackierten Fußnägel unter den Strümpfen. Die Flammen in ihm schlugen wieder hoch auf. Kein Zweifel, so oder so, er würde mit ihr schlafen.
10 . Kapitel
Nefissa schätzte den jungen gutaussehenden Kellner auf ungefähr zwanzig, also so alt wie ihren Sohn. Er
konnte
demnach nicht mit ihr flirten. Das bildete sie sich bestimmt nur ein. Aber als er ihr den Tee servierte, fand sie, er tat es etwas hingebungsvoller als nötig. Sie sah wieder das Blitzen in seinen dunklen Augen, mit dem er sie bereits bedacht hatte, als sie am Tisch Platz nahm. Und nun war sie verwirrt.
Sie folgte ihm mit den Blicken, als er zum nächsten Tisch ging. Er kehrt etwas zu sehr den schönen Mann heraus, dachte Nefissa, während sie gedankenverloren den Tee umrührte und die Boote auf dem jadegrünen Nil betrachtete. Es war ein richtiger Junitag, noch nicht so heiß wie im Sommer, aber erfüllt von angenehmer Samtigkeit und deshalb ideal, um auf der Terrasse des Cage d’Or zu sitzen und sich wohlig den Minuten zu überlassen, die langsam wie das Wasser im Fluß vorüberzogen.
Nefissa war an diesem Tag in den wenigen eleganten Modegeschäften gewesen, die es in Kairo noch gab. Durch die neue patriotische Parole, nur noch in Ägypten produzierte Waren zu kaufen, gab es leider immer weniger Dinge von hoher Qualität. Aber es war ihr gelungen, ein hübsches Dior-Abendkleid zu finden und eine Simonetta-Fabiani-Hose mit der passenden Jacke – wirklich der letzte Schrei. Aber der Einkaufsbummel hatte Stunden gedauert, und zu allem Überfluß mußte sie sich mit einem Taxi begnügen; die Raschids hatten ihren Chauffeur entlassen, denn in der neuen sozialistischen Gesellschaft durfte man solche Zeichen des Reichtums nicht mehr so sichtbar zur Schau stellen.
Auch das Café, in dem sie saß und Tee trank, war nicht mehr dasselbe wie früher. Das Cage d’Or war als sehr exklusiver Club früher ausschließlich der Aristokratie und natürlich der königlichen Familie vorbehalten gewesen. Während Nefissa die Frauen der Fischer am anderen Ufer beobachtete, die vor ihren Holzkohlefeuern saßen und Fische ausnahmen, dachte sie an die Zeit, als sie im Gefolge von Prinzessin Faiza hierher gekommen war. Damals hatte ihr Mann, der Rennfahrer, noch gelebt, und Omar war ein Säugling gewesen. Sie waren jung, reich und
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