Das Paradies
werden niemals heiraten. Also versuch das nicht noch einmal. Hast du mich verstanden?« Dann lief sie zu ihren Büchern und ins Haus.
Omar stand auf und senkte verlegen den Kopf. »Umma, ich … ich dachte, du würdest zum Fluß gehen«, stotterte er.
»Das wollte ich auch. Aber an der Kreuzung fiel mir ein, daß ich die Blumen vergessen hatte.«
Mehr sagte sie nicht, und Omar stand stumm vor ihr und starrte auf den Boden.
Als er das Schweigen nicht länger ertragen konnte, hob er den Kopf. Er sah ihre dunklen, intelligenten Augen auf sich gerichtet, und plötzlich erinnerte er sich daran, wie er als kleiner Junge im Garten saß und einem Schmetterling die Flügel ausriß und Umma ihn dabei erwischte. Er hatte ihr Kommen nicht bemerkt. Sie hatte ihm so fest und unvermutet eine Ohrfeige gegeben, daß er auf dem Rücken ins Gras fiel. In seinem ganzen Leben hatte ihn vorher und nachher niemand geschlagen.
Sie funkelte ihn an. Der sanfte Juniwind spielte in den Strähnen ihrer schwarzen Haare, die sich aus dem Knoten im Nacken gelöst hatten. Sie war seine Großmutter, aber Omar sah sie so, wie alle sie sahen: eine schöne Frau mit einem starken Willen, der sich in den durchdringenden Augen und dem energischen Kinn zeigte. Er hatte erlebt, daß seine Mutter in Tränen ausbrach, wenn Khadija sie nur vorwurfsvoll ansah, ohne etwas zu sagen.
Er schluckte trocken und murmelte: »Verzeih mir, Umma.«
»Nur Gott kann verzeihen.« Etwas sanfter fügte sie hinzu: »Omar, was du getan hast, war falsch.«
»Aber ich glühe, Umma, ich verbrenne«, erwiderte er leise.
»Alle Männer glühen, mein geliebter Enkel. Du mußt lernen, die Glut zu besiegen. Du darfst Jasmina nie wieder berühren.«
»Dann will ich sie heiraten!«
»Nein.«
»Warum nicht? Ich bin ihr Vetter. Wer sonst soll sie heiraten?«
»Du weißt nicht alles. Als die erste Frau deines Onkels starb, hat deine Mutter Jasmina gestillt. Damals hat sie auch dich noch gestillt. Der Koran verbietet eine Ehe, wenn Mann und Frau als Säuglinge an derselben Brust gestillt wurden. Das ist Inzest, Omar.«
Er sah sie verzweifelt an. »Das habe ich nicht gewußt! Jasmina ist also meine Schwester!«
»Und du kannst sie nicht heiraten.«
Tränen stiegen ihm in die Augen. »
Bismillah
! Was soll ich denn tun, Umma?«
Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte lächelnd: »Das kannst du nicht entscheiden, Omar. Dein Schicksal steht in Gottes Buch geschrieben. Bete zu dem Allmächtigen. Vertraue auf IHN .«
Omar sprach ein Gebet. Aber als Khadija den Garten verlassen hatte, trat er wütend gegen einen Busch Lilien, und als er sie zertrampelt hatte, riß er sie aus dem Boden. Dann lief er ins Haus, rannte zu den Räumen seiner Mutter und stürzte, ohne anzuklopfen, ins Zimmer.
»Ich möchte heiraten«, erklärte er, »auf der Stelle.«
Nefissa blickte überrascht von ihrem Schminktisch auf. »Wer ist die Frau, mein Schatz?«
»Weiß ich nicht. Ich nehme jede. Such mir eine Frau!«
»Und was ist mit deinem Studium? Du gehst doch auf die Universität!«
»Ich habe gesagt, ich will heiraten. Ich habe nicht gesagt, daß ich mein Studium aufgeben will. Ich werde studieren und verheiratet sein.«
»Kannst du nicht warten, bis du dein Examen gemacht hast?«
»Das dauert noch drei Jahre, Mutter! Das Warten bringt mich um!«
Sie seufzte. Die Ungeduld eines Zwanzigjährigen! War sie auch so gewesen?
»Also gut, mein Schatz«, sagte sie, ging zu ihrem Sohn und fuhr ihm mit der Hand durch die dichten schwarzen Haare. Sie mußte an den Kellner im Cage d’Or denken, an den jungen Mann in Omars Alter. Plötzlich hatte sie die Vorstellung, ihr Sohn werde sich aus Verzweiflung vielleicht eine alte, reiche Frau suchen, die seine Bedürfnisse befriedigte. Innerlich entsetzt sagte sie: »Ich werde mit Ibrahim darüber sprechen.«
Hassan folgte dem Diener die Treppe nach oben und pfiff dabei gutgelaunt. Er hatte diesen Besuch bei Ibrahim schon sehr lange geplant; manchmal hatte er geglaubt, nicht länger warten zu können, sich dann aber jedesmal ins Gedächtnis gerufen, daß er sich seinem Ziel nur mit größter Vorsicht nähern durfte, wenn er es erreichen wollte. Ibrahim war nicht mehr derselbe gute Freund wie früher. Die sechs Monate im Gefängnis hatten ihn verändert. Hassan konnte deshalb Ibrahims Reaktionen nicht mehr vorhersehen. Früher hatte er in Ibrahim lesen können wie in einem Bilderbuch. Aber jetzt überkamen seinen Freund Anfälle von Depression und
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