Das Paradies
Sie hatte einen reichen Witwer geheiratet und war ausgezogen. Aber dafür lebte der alte Onkel Saleem hier. Er saß ganz dicht vor dem Radio, denn er hörte kaum noch etwas. Eine andere neue Mitbewohnerin war Nihad, die Witwe von Mohssein Raschid. Ibrahims Vetter war im Suezkrieg gefallen. Nihad verdiente ihren Lebensunterhalt, indem sie an der Abendschule für Ägypter der älteren Generation, die nur Englisch und Französisch sprachen, Arabischunterricht gab. Die Regierung verlangte, daß alle Geschäfte und kommerziellen Verhandlungen auf arabisch abgewickelt wurden. Deshalb hatte Nihad volle Klassen, und sie unterrichtete Männer, die zwanzig und dreißig Jahre älter waren als sie selbst.
Während sie auf den Anfang des Konzerts warteten, ergänzte Khadija das Familienalbum. Es gab inzwischen keine leeren Stellen mehr, wo die Bilder der verstoßenen Tochter Fatima entfernt worden waren. Khadija hatte sie nach und nach durch Bilder anderer Familienmitglieder ersetzt. Jetzt klebte sie auf die letzte leere Seite ein Photo und dachte: Fatima wäre jetzt achtunddreißig. Wenn sie noch am Leben ist …
»Mischmisch«, rief Zacharias quer durch den Raum, »wir haben heute nachmittag den neuen Film mit Dahiba gesehen!«
Omar sah Amira vorwurfsvoll an. »Wo bist du gewesen?«
»Beim Roten Halbmond. Das weißt du doch.«
»Wer hat dich nach Hause begleitet?«
Amira hatte nichts dagegen einzuwenden, daß Omar sie auf diese Weise ausfragte. Als männlicher Verwandter hatte er das Recht dazu, und sie mußte ihm Rede und Antwort stehen. »Mona und Aziza. Sie sind bis zum Tor mitgekommen.« Omar brauchte sich keine Sorgen zu machen; Amira hätte sich nie allein auf die Straße gewagt, aus Angst, daß die jungen Männer sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen würden, ein schutzloses junges Mädchen anzupöbeln und mit Steinen zu bewerfen. Hatte Umma recht, wenn sie sagte, so etwas sei nie vorgekommen, solange die Frauen noch den Schleier trugen?
»Oh, Mischmisch …«, sagte Jasmina und seufzte, »du hättest Dahiba tanzen sehen sollen!« Sie stand auf, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und ließ langsam die Hüften kreisen. Omar fielen fast die Augen aus dem Kopf.
»Aber warum kommst du so spät, Liebes?« fragte Alice. Sie saß auf einem Sofa und blätterte in einem Katalog mit Sämereien. Sie wollte noch einmal versuchen, Knollenbegonien im Garten zu ziehen, obwohl es ihr in den vergangenen neun Jahren nicht gelungen war. »Du bist doch sonst immer rechtzeitig zum Abendessen zurück.«
Amira war so aufgeregt, daß sie kaum stillsitzen konnte. »Wir sind in ein Krankenhaus gegangen!«
Khadija sah sie erschrocken an. Beim Roten Halbmond Binden wickeln, dagegen war nichts einzuwenden, aber persönlicher Umgang mit Patienten, das konnte nicht angehen.
Als Amira den Blick ihrer Großmutter sah, sagte sie lachend: »Keine Sorge, Umma! Wir durften nur in die Kinderklinik!« Amira freute sich sehr. Sie würde im Juni die Schule verlassen und im September ihr Universitätsstudium beginnen. Natürlich durfte sie nicht auf die Kairo-Universität, wo Omar studierte und auch Zacharias bald studieren würde, obwohl die Universität inzwischen auch Frauen aufnahm. Khadija hatte mit Nachdruck erklärt, ihre Enkeltöchter würden sich nicht auf einem großen Campus unter die Scharen von Studenten mischen, die aus dem gesamten Mittleren Osten kamen, und sie würden auch nicht in überfüllten Hörsälen mit ihren Kommilitonen zusammensitzen. Amira würde sich wie Jasmina an der angesehenen Amerikanischen Universität einschreiben. Es war eine kleine Privat-Universität. Und obwohl auch dort junge Männer studierten, konnte man die Sicherheit eines Mädchens eher garantieren. Umma wollte, daß Amira Musik, Kunst und Literatur studierte, aber Amira hatte ganz andere Pläne. Sie wußte genau, was sie studieren würde – Naturwissenschaften.
Als Ibrahim den Salon betrat, begrüßte ihn die Familie respektvoll. Er küßte zuerst seine Mutter, drückte dann die Lippen auf die kühle Wange von Alice und umarmte seine Töchter. Als Zacharias ihn erwartungsvoll anlächelte, wandte sich Ibrahim ab und setzte sich auf den Ehrenplatz. Jasmina fragte: »Wo ist Onkel Hassan?« Seit sich Hassans beide Frauen von ihm hatten scheiden lassen, war es seine Gewohnheit, im Haus der Raschids Khalsoums monatliches Konzert zu hören. Aber Hassan bekleidete inzwischen ein wichtiges Regierungsamt und hatte viele politische Verpflichtungen.
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