Das Paradies
»Er muß heute abend arbeiten«, erwiderte Ibrahim, und Jasmina konnte ihre Enttäuschung kaum unterdrücken. Sie war schon als kleines Mädchen in den Freund ihres Vaters vernarrt gewesen, aber jetzt war daraus eine jugendliche Liebe geworden.
»Wir waren heute im Krankenhaus«, sagte Amira zu ihrem Vater und setzte sich neben ihn.
»Ach wirklich?« Er lächelte sie liebevoll an. »Und was habt ihr dort gemacht?«
»Wir waren in der Kinderklinik, und als man zu einer Demonstration eine Freiwillige brauchte, habe ich mich gemeldet.«
»Du bist ein kluges Kind und wirst mich bestimmt nicht enttäuschen. Wenn man etwas lernen möchte, darf man nicht schüchtern sein. Vielleicht kommst du eines Tages in meine Praxis und kannst mir helfen. Würde dir das gefallen?«
»Aber ja! Wann kann ich bei dir anfangen? Morgen?«
Er lachte und legte ihr die Hand auf den Kopf. »Wenn du mit der Schule fertig bist. Ich werde eine gute Krankenschwester aus dir machen.« Sie lächelte ihn glücklich an, und für Ibrahim war das Einverständnis mit seiner Tochter ein Trost, der ihm half, vieles zu vergessen, was sein Leben vergiftete. »So, ich glaube, die Sendung beginnt«, sagte er zufrieden.
Um Khalsoum war eine so berühmte Sängerin, daß die gesamte arabische Welt an jedem vierten Donnerstag im Monat buchstäblich zum Stillstand kam, denn für ihr Konzert wurden alle Fernsehgeräte und Radios eingeschaltet. Präsident Nasser machte sich diese Popularität zunutze und hielt seine Reden wenige Minuten vor Konzertbeginn. Als er zu sprechen begann, legte Khadija das Photoalbum beiseite. Sie mochte den charismatischen ägyptischen Präsidenten. Sie hatte ihn vor sechs Jahren gewählt, aber nicht deshalb, weil sie etwas über ihn wußte, sondern weil er zum ersten Mal in der ägyptischen Geschichte den Frauen das Wahlrecht zuerkannt hatte. Und so war auch Khadija stolz zu den Urnen gegangen. Sie mochte Nasser weniger wegen seiner Politik, für die sie sich kaum interessierte, sondern weil er Ägypter und ein bescheidener Mann war. Als Sohn eines Postbeamten aß Nasser wie alle anderen zum Frühstück Bohnen, und er betete jeden Freitag in der Moschee.
An diesem Abend überraschte der Präsident die Welt mit einer historischen Rede. Bei den Raschids hielten ein paar der Zuhörer erstaunt die Luft an, als er über das umstrittene Thema »Familienplanung« sprach.
Dank der verbesserten staatlichen Gesundheitsfürsorge, so erklärte er seinen gebannt lauschenden Zuhörern, sei die Kindersterblichkeit gesunken; weniger Menschen starben an Cholera und Windpocken. Insgesamt war die Lebenserwartung gestiegen. Diese Erfolge hätten jedoch zu einer alarmierenden Bevölkerungsexplosion geführt. Nasser berichtete mit ernster Stimme, die Bevölkerung sei von 21 Millionen im Jahr 1956 auf 26 Millionen im Jahr 1962 gewachsen. Wenn es so weitergehe, sagte er, werde Ägypten unter der Last seiner Menschen unweigerlich in Armut versinken. Deshalb sei die Zeit für eine verantwortungsvolle Geburtenregelung gekommen. Diese Maßnahme, so versicherte er seinen Millionen Zuhörern, werde letztlich die Lage der Familie verbessern, und die Familie sei die wichtigste Institution im Mittleren Osten.
Während Ibrahim der Rede des Präsidenten lauschte, dachte er an seinen »Sohn«, der auf dem Sofa saß, und schämte sich seiner Gedanken. Zacharias war ein netter Junge. Alle mochten ihn, aber Ibrahim empfand bei seinem Anblick nur Widerwillen, als sei der Sechzehnjährige eine Art Irrtum der Natur. Am beunruhigendsten war es, daß Zacharias eine gewisse Ähnlichkeit mit Ibrahim besaß, als wolle Gott ihn verspotten.
Je länger Nasser von Empfängnisverhütung sprach, desto mehr wuchs Ibrahims Widerwillen. Was sollte das Gerede darüber, die Geburt ungeborener Säuglinge zu verhüten? Wo war die Klinik für Geburtenkontrolle gewesen, als das Dorfmädchen mit ihrem Liebhaber geschlafen hatte und Zacharias gezeugt wurde? Warum war nichts geschehen, um die Geburt des unehelichen Kindes zu verhindern? Nasser erklärte, zum Schutz der Mutter, und sei es nur, um ihr die Angst vor einer neuen Schwangerschaft zu ersparen, erlaube der Islam die Geburtenkontrolle. Als er sogar soweit ging, den Koran zu zitieren: »Es steht geschrieben: ›Gott will dein Glück. ER will nicht dein Leid und hat dir in der Religion keine besondere Härte auferlegt‹«, dachte Ibrahim bitter: Aber was soll ein Mann tun, der keinen Sohn bekommt?
Er warf einen Blick auf Alice,
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